Predigt am 12. September 2010 in der Kreuzkirche Reutlingen. 1. Johannes 4,16-19
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- Manuela Kolbe
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1 Predigt am 12. September 2010 in der Kreuzkirche Reutlingen 1. Johannes 4,16-19 Gott ist nicht nur Vater, er ist vielmehr auch Mutter. Erinnern Sie sich, liebe Gemeinde, wer diesen Satz geprägt hat? Es ist ziemlich genau 32 Jahre her für unserer Konfirmandinnen und Konfirmanden eine unvorstellbar lange Zeit. Papst Paul der VI. war gestorben, und die Kardinäle hatten überraschend schnell einen Nachfolger gewählt. Dieser neue Papst gab sich den Namen seiner beiden Vorgänger und nannte sich Johannes Paul I. Er war der Vertreter einer jüngeren Generation. Sein Gesicht wird vielen Menschen in Erinnerung bleiben. Er hatte eine freundliche Ausstrahlung, und man sagte über ihn: Er ist der lächelnde Papst. Nur 33 Tage war er im Amt, dann ist er völlig überraschend gestorben. 1 Gott ist nicht nur Vater, er ist vielmehr auch Mutter. Gott als liebevoller Vater, der Verständnis hat und Fehler verzeiht. So stellen sich viele Menschen Gott vor, und so werden wir auch im Neuen Testament, z. B. im Gleichnis vom verlorenen Sohn, angeleitet, Gott zu sehen. Andere Menschen haben Schwierigkeiten, sich Gott als Vater, vorzustellen. Vielleicht, weil die Erinnerung an den eigenen Vater nicht besonders positiv ist. Mein Vater war ein unnahbarer, strenger Mann. Was auch immer ich tat, nie war es gut genug, erzählte mir eine Frau meines Alters. 1
2 Wir Kinder, auch meine Mutter, wir haben sehr unter ihm gelitten. Deshalb ist es völlig undenkbar für mich, mir Gott als Vater vorzustellen. Hinter diesen Worten verbirgt sich ein ganz grundsätzliches Problem: Wir können von Gott nur sprechen in Bildern unserer Erfahrung als Menschen. Gott aber ist viel mehr, er ist jenseits aller unserer Erfahrungen. Und dann sind unsere Erfahrungen stark mit unserem eigenen Lebensalter und mit unserer eigenen Biografie verknüpft. Ich kann mich noch an die Zeit als Kind erinnern, in der ich mir Gott vorstellte als uralten Mann, der oben im Himmel auf einem Thron sitzt. Er hat die Welt geschaffen und auch mein Leben, das hatte ich in der Kinderkirche gehört. Aber ich habe viele Jahre nicht verstanden, was dieser Vatergott im Himmel mit dem Menschen Jesus zu tun haben könnte. 2 Irgendwann kam ich in das Alter, in dem ich diese Gottesvorstellung ablegte. Eine neue Vorstellung trat an diesen Platz, und so hat sich mein Gottesbild in meinem Leben immer wieder verändert. Die Gottesvorstellungen der Menschheit insgesamt verändern sich, sie entwickeln sich weiter. Unser Gott, der Gott der Juden und Christen, ist in der Geschichte eine verhältnismäßig späte Station. Davor gab es zigtausend Jahre lang ganz andere Vorstellungen von Gott und Göttern. Vorstellungen, die wir längst zurückgelassen haben. 2
3 Nun haben wir uns seit vielen Generationen eine christliche Gottesvorstellung angeeignet. Aber auch sie ist dem Wandel unterworfen, in unserer Gesellschaft wie in unserer eigenen Lebensgeschichte. Ich bin überzeugt: Wir leben inmitten einer fortwährenden Veränderung. Das Bewusstsein der Menschheit und das Bewusstsein jedes einzelnen Menschen entwickeln sich. Das Leben stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, die unser Glaube meistern muss. Immer wieder einmal müssen wir auch geistig Vertrautes verlassen und Neuland betreten. Nicht jeden Tag, aber mehrmals im Leben. Der Dichter Hermann Hesse hat dazu ein berühmt gewordenes Gedicht geschrieben. Ich meine das Gedicht Stufen, und wenigstens einen Satz daraus haben Sie bestimmt schon einmal gehört. 3 Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, 3
4 Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wie jede Blüte welkt, so beginnt Hermann Hesse seine Stufen. Da denkt man im ersten Moment an den Kreislauf der Natur: an Frühling, Sommer, Herbst und Winter, an welkende Blumen und wachsende Früchte, an Saat und Ernte, Regen und Sonne, die Wiederkehr des ewig Gleichen. 4 Doch schon beim nächsten Vergleich wird man stutzig: Wie die Jugend dem Alter weicht. Da denkt man nicht an die Natur draußen, sondern an sich selbst. Dann ist klar: Unser Leben ist kein ewiger Kreislauf. Es ist eine einzelne, einmalige Reise, von der Kinderzeit über die Jugend und das Erwachsenensein bis hin zum Älterwerden und dann zu einem definitiven Ende. Nichts hier darf ewig dauern. Jeder/jede von uns ist eine einzige Blüte, jeder/jede einzelne trägt Frucht und beendet irgendwann das Leben. Jede unserer Lebensphasen hat ihre Eigenarten, ihre eigene Weisheit und ihre eigenen guten Eigenschaften, die Tugenden. 4
5 Und ihre eigenen Gottesbilder. Ja, man könnte auch sagen: Sie entwickeln und verändern sich. Manchmal langsam, fast unmerklich, manchmal mit großen Brüchen. Von Gottvater, dem alten Mann, der unsere Geschicke vom Himmel aus lenkt, haben wir uns irgendwann verabschiedet. Wir haben die christlichen Wertvorstellungen kennengelernt und in uns aufgenommen: die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die Verantwortung für die Schöpfung als die wichtigsten. Und wir wissen, dass, geprägt durch diese Werte, wir selbst und andere Menschen verantwortlich sind für vieles, was um uns herum geschieht. In dieser Phase haben wir vielleicht auch entdeckt, dass uns der Glaube zeigt, wie wir nach Gottes Willen und nach dem Vorbild Jesu leben sollen. Glaube vor allem verstanden als Ethik, als praktische Wegweisung fürs unser Leben. 5 Ich weiß noch, wie viele Jahre lang ich mir vorgestellt habe, dass Gott auf jeden Fall gerecht sei gerecht in einem ganz bestimmten Sinn: Wenn es einem Menschen in einer Phase seines Lebens schlecht geht, dann, so dachte ich, würde es in späteren Jahren einen Ausgleich dafür geben oder wenigstens in der Ewigkeit. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist: Für mich waren es bittere Stunden, als ich feststellen musste, dass manche Menschen sterben, bevor dieser Ausgleich kommt. Und wie soll ich es mir vorstellen mit einem Ausgleich in der Ewigkeit, wenn da doch alle Menschen bei Gott geborgen sind? 5
6 Manchmal machen wir schmerzhafte Erfahrungen, bevor wir unser Gottesbild ändern. Da ist es gut, sich mit Hermann Hesse an die Kraft, an den Zauber und die Freude zu erinnern, die das Ausziehen von zu engen Kleidungsstücken macht. Das heißt nicht, dass wir unsere alten geistigen Kleider wegwerfen müssen, dass wir sie verachten oder über sie herziehen. Das ist die Kunst: das Gute zu behalten und in das spätere erwachsenere Leben zu integrieren. So, wie man in einer alten Jacke eine Eintrittskarte von früher findet und sich an den wunderbaren Abend damals erinnert. Und den Zauber und die Freude noch einmal spürt, die damals über diesem Abend lag. Hermann Hesse sagt das so: Wir wollen heiter Raum um Raum durchschreiten, 6 An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. 6
7 Heiter ist vielleicht auch das schönste und wichtigste Wort. Sich von alten Überzeugungen und Gottesbildern zu verabschieden, ist manchmal ein schmerzhafter, ein mühsamer Prozess. Und doch sind wir Menschen so angelegt, dass wir uns im Lauf des Lebens weiterentwickeln, zu reiferen Menschen werden und uns auch daran freuen. Wenn ich auf mein eigenes Leben zurückschaue, kann ich sagen: Wenn ich in den nächsten Raum ging, warteten neue Herausforderungen, und es galt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und ich habe gespürt, dass sich jeweils im nächsten Raum mein Gottesbild geweitet hat. Heute kann ich sagen: Gott ist nicht der uralte Mann im Himmel, er ist nicht gerecht in dem Sinn, dass er schlimme Zeiten im Leben eines Menschen später durch gute Zeiten ausgleicht, und Glaube ist mehr als Ethik. 7 Gott ist mir Gegenüber geworden, Gesprächspartner. Ich kann mich darauf verlassen, dass er da ist und mir nahe ist. Ich muss keine Angst vor ihm haben ich kann mit allem, was mich umtreibt und bewegt, zu ihm kommen. Bei ihm bin ich gut aufgehoben mit meinen Licht- und Schattenseiten. Und ich weiß: Gott gibt mir die Kraft, mein Leben nach seinen Maßstäben zu führen. 7
8 Dieser Glaube hat mich bisher durch mein Leben getragen, und ich vertraue darauf, dass ich damit auch in Zukunft schwierige Tage bestehe. Diesen Glauben, dieses Vertrauen möchte ich gerne weitergeben. Liebe Gemeinde, ein solches Gottesbild geht noch weiter als dasjenige, das Gott wie einen Vater und wie eine Mutter sieht. Auch im Neuen Testament gibt es verschiedene Vorstellungen von Gott, und sie haben sich in den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments weiter entwickelt. Gut, dass das Gottesbild auch innerhalb des Neuen Testaments weiterentwickelt wurde. Wir Menschen heute profitieren von der Vielfalt der Gotteserfahrungen, wie sie die Menschen damals erlebt und aufgeschrieben haben. 8 Ein Bibelwort, an dem dieser Reichtum deutlich wird, stelle ich Ihnen jetzt vor. Es steht nicht bei Paulus und auch nicht in den Evangelien, sondern ziemlich hinten in der Bibel im 1. Johannesbrief. Er ist auch zeitlich erst viel später entstanden als Paulus gelebt hat oder die Evangelien entstanden sind. Johannes schreibt im 4. Kapitel seines ersten Briefes: 8
9 Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 1. Johannes 4,16-19 Liebe Gemeinde, welch ein neuer, weiter Raum tut sich da auf, wenn wir uns Gott so vorstellen: Gott ist die Liebe. 9 Der Gegensatz zu dieser Liebe ist bezeichnenderweise nicht Hass, wie wir denken könnten, sondern Furcht. Fürchte dich nicht! ist übrigens eine der häufigsten Redewendungen in unserer Bibel. Furcht ist nicht in der Liebe, sagt Johannes. Geliebt mit dieser Liebe, die Gott ist, und bewegt von dieser Liebe können wir auch den letzten Raum betreten, den unser Leben für uns vorsieht. Ich lese den Schluss von Hermann Hesses Stufengedicht: 9
10 Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde. Wie gut, liebe Gemeinde, dass wir Gott und seine Liebe spüren können schon jetzt, wenn wir den ersten Raum unseres Lebens betreten wie unsere Täuflinge heute, wenn wir von einem Raum unseres Lebens zum nächsten gehen, immer weiter und irgendwann zum letzten. Wie gut, dass Gott, seine Liebe, hineinreicht auch in die Räume, die nach dem Tod kommen. 10 Im Kraftfeld dieser Liebe, die Gott ist, können wir heiter vom ersten bis zum letzten Raum gehen, und unser Herz kann frei von Furcht werden und gesund. Amen. Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer 10
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