We Will Bury You (deutsch) [2024]

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1 We Will Bury You deutsch Wir werden euch begraben Der sowjetische Plan zur Zersetzung des Westens Vom ranghöchsten Kommunisten, der jemals überlief Jan Šejna

2 Originaltitel We Will Bury You The soviet plan for the subversion of the West by the highest ranking Communist ever to defect Jan Šejna (* 12. Mai 1927 in der tschechischen Gemeinde Radhostice, 23. August 1997 in New York City) war ein Generalmajor und oberster Politoffizier der Tschechoslowakischen Volksarmee. Im Februar 1968 flüchtete er in den Westen und stellte sein Wissen dem amerikanischen CIA zur Verfügung Erstveröffentlichung (Englisch) bei Sidgwick and Jackson Ltd., London 2024 Übersetzung in die deutsche Sprache

3 Buchbeschreibung Wenn jemals ein System seine Bediensteten vollständig verdarb, dann war und ist das der Kommunismus. Und wenn der Kommunismus von einer ausländischen Macht aufgezwungen wird, so brutal und chauvinistisch wie durch die Sowjetunion, dann korrumpiert er nicht nur, er entartet. Mit diesen zwangsläufig lückenhaften und unvollständigen Erinnerungen hoffe ich, etwas von dem Umfeld zu vermitteln, welches einen führenden Parteifunktionär eines sowjetischen Satellitenregimes umgibt. Jan Šejna, ehemaliger Stabschef des Verteidigungsministers der Tschechoslowakei und Stellvertreter des Sekretärs des streng geheimen tschechoslowakischen Verteidigungsrates eine machtvolle Position ist der ranghöchste Kommunist, der jemals überlief. Sein Aufstieg in Prag war rasant. Im Alter von siebenundzwanzig war er Oberst, ein Politoffizier, sowie ein Mitglied der Volkskammer und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Als er vierzig war, wurde er zum General ernannt. Seine Berichte über das Leben in den höchsten Rängen der Militärmacht hinter dem Eisernen Vorhang und seine kurzen Erzählungen über die führenden Kräfte der kommunistischen Welt, mit denen er Kontakt hatte unter anderem Chruschtschow, Breschnew, Novotný und dem sowjetischen Oberkommando sind authentisch und einzigartig. Aber das, was dieses Buch so bemerkenswert

4 macht, ist die Tatsache, dass Šejna Zugang zu einem detaillierten Plan der Sowjets hatte, welcher den Westen schrittweise zersetzen soll. Ein großer Teil des Buches besteht aus einer eindrucksvollen Zusammenfassung dieses strategischen Plans, welcher hier erstmalig veröffentlicht wurde. Šejna lief im Februar 1968 über. In den Jahren seitdem ich Prag verließ, werden sich die Details des Plans geändert haben,, schrieb Šejna, da jeder Abschnitt des Plans einer permanenten Überprüfung unterliegt, um die neuen Faktoren zu berücksichtigen, die sich durch die Veränderungen der politischen Akteure in der Welt ergeben. Ich weiß, dass der Plan, trotz dieser Änderungen, im Wesentlichen gleich bleiben wird unabhängig davon wie flexibel und pragmatisch die sowjetische Politik erscheint. Sie ist hauptsächlich auf die Zielsetzungen des Plans ausgerichtet. Diese Ziele waren, sind, und werden ganz und gar feindlich und subversiv gegenüber den Freiheiten sein, welche die Länder der westlichen Welt genießen.

5 Inhaltsverzeichnis Vorwort Vom Bauernjungen zum Parteifunktionär Chruschtschow und die Entstalinisierung Probleme mit den Satellitenstaaten Amerikanisch-sowjetische Beziehungen Das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis Probleme auf dem Balkan Friedliche Koexistenz Chruschtschows Niedergang Abbildungen Breschnew Der strategische Plan Westdeutschland: Die zentrale Front Die neutralen Länder: Österreich, Schweiz, und Skandinavien Westeuropa und der Balkan Der Plan für Großbritannien und Australien Amerika und Kanada Enttäuschung Der aufkommende Sturm Der Eingriff der Sowjets Lossagung

6 Vorwort Mit meinem Sohn und seiner Verlobten fuhr ich an einem eisigen Sonntagmorgen im Februar 1968 aus Prag so schnell wie es die vereisten Straßen zuließen südöstlich über Ungarn und Jugoslawien nach Italien. Ich flüchtete wie ein Krimineller aus dem Land, das ich liebte, und ließ das System zurück, welches mich aus der Armut herausholte und mir Macht und Privilegien gab. Oft schaue ich in Gedanken auf die Jahre zurück und denke über meine Freunde und Weggefährten nach, die ich kannte, bevor Dubček in der Tschechoslowakei an die Macht kam. Die meisten von uns waren ambitioniert, einige von uns waren grausam und manche waren einfach naiv. Dennoch bin ich überzeugt, dass alle von uns Minister, Generäle, Kommissare und reine Parteimitglieder in dem System gefangen waren, unfähig zu handeln oder voranzuschreiten, geschweige denn außerhalb des Systems zu denken. In Großbritannien und in den USA ist es heute üblich, dass, wenn ein junger Delinquent oder ein Krimineller vor Gericht gestellt wird, damit argumentiert wird, dass wir der Gesellschaft die Schuld geben sollten. Wir sind alle schuldig., wird da gerufen, Es ist das Verschulden des Systems. Doch wenn jemals ein System seine Bediensteten vollständig verdarb, dann war und ist das der Kommunismus. Und wenn der Kommunismus von einer ausländischen Macht aufgezwungen wird, so brutal und chauvinistisch wie durch die Sowjet- 6

7 union, dann korrumpiert er nicht nur, er entartet. Mit diesen zwangsläufig lückenhaften und unvollständigen Erinnerungen hoffe ich, etwas von dem Umfeld zu vermitteln, welches einen führenden Parteifunktionär eines sowjetischen Satellitenregimes umgibt. Zudem hoffe ich, dass dieses Buch einen kleinen Einblick in die politische Einstellung der Sowjets gegenüber dem Westen gibt, nicht zuletzt durch die detaillierte Zusammenfassung des strategischen Plans der Sowjets zur Zersetzung des Westens, welche ich im zweiten Teil dieser Ausgabe aufgeführt habe. Jan Šejna 7

8 1 Vom Bauernjungen zum Parteifunktionär Das kleine Dörfchen namens Libotyně liegt tief im großen Böhmerwald, der den Tschechen unter dem Namen Šumava bekannt ist, und ist etwa vierundzwanzig Kilometer von der bayerischen Grenze entfernt. Als ich dort wohnte, umfasste es nur siebenundzwanzig Häuser. In einem von diesen einer eingeschossigen Hütte aus Stein und Holz mit einem Strohdach wurde ich am 12. Mai 1927 geboren. Meine Eltern waren arme Kleinbauern. Dabei bot der Wald einen guten Landstreifen zur Bewirtschaftung, jedoch kaum genug, um die zwei Kühe zu halten, welche unseren gesamten Viehbestand darstellten. Um zu überleben, mussten meine Mutter und mein Vater für einige der größeren und reicheren Bauern in der Gemeinde arbeiten. Mein Vater, ein talentierter Schreiner, arbeite außerdem im Sommer in Prag und in den umliegenden Dörfern. Er war das zehnte Kind einer Familie mit elf Kindern und war der Liebling meiner Großmutter, weshalb er den miserablen Familienbesitz geerbt hatte. Als junger Mann wollte er Kunst studieren, sein Vater konnte sich jedoch dies nicht leisten. Stattdessen fing er bei einer Tischlerei an. Er war ein kultivierter Mann, der sich komplett eigenständig weitergebildet hatte. Er las sehr viel und, trotz unserer Armut, häufte er eine beträchtliche Büchersammlung an und organisierte eine Freiluftbib- 8

9 liothek für das Dorf. Mit seinen vielseitigen Talenten schnitzte und lackierte er nicht nur ein Altarbild für die Kirche im benachbarten Dorf, er improvisierte sogar Theateraufführungen der Dorfkinder in unserem Dorfrestaurant. Mein Vater war Regisseur, Produzent und Bühnenbildner für jede Veranstaltung. Über den gesamten Winter wir hatten Schnee vom Oktober bis zum Mai arbeitete er zuhause an seinen Schnitzereien und Malereien. Obwohl unser Dorf klein war, hat es eine lange Geschichte von talentierten Künstlern, die mehrere hundert Jahre zurückreicht. Die meisten Häuser hatten eine schöne Holzschnitzerei an der Fassade und kunstvoll dekorierte Innenräume. Jedoch gab es dort nur wenig Komfort und Wertgegenstände. Elektrizität und Radio gab es noch nicht. Die Nachrichten aus der Welt erhielten wir nur durch den Postboten, der die Zeitungen brachte. Dort gab es weder eine Kirche noch eine Schule. Dafür gab es ein Café für die Tschechen, die nicht ohne Bier leben konnten. Diese Entbehrungen machten uns Kindern große Sorgen, außer der fünf Kilometer lange Waldweg zur Schule im nächsten Dorf, den wir ab sechs Jahres gehen mussten. Dies bedeutete um fünf Uhr morgens aufzubrechen, um durch die Dunkelheit und den Schnee im Winter zu stolpern. Der Wald bot uns eine ideale Spielwiese und im Sommer eine willkommene Ergänzung zu unserer kümmerlichen Ernährung. Dort gab es nämlich Pilze, Brom- 9

10 beeren und wilde Erdbeeren. Die meisten Dorfbewohner lebten am Existenzminimum. Ich war ein Einzelkind. Meine Großeltern lebten bei uns und wir aßen alle zusammen. Im Winter schliefen wir gemeinsam in einem großen Raum, der durch einen Ofen in der Mitte aufgewärmt wurde. Im Sommer übernachteten meine Großeltern in einem kleinen unbeheizten Nebenraum, den wir manchmal dazu nutzten, um Gäste unterzubringen. Wir waren eine aufrichtig katholische Familie wie alle anderen im Dorf. Jeden Sonntag brachte mich mein Großvater in die Kirche im nächsten Dorf. Er selbst zog es vor im nahegelegenen Café Bier zu trinken, während ich an der Heiligen Messe teilnahm. Auf dem Rückweg hatte ich ihm immer die Predigt zu wiederholen, damit er meine Großmutter davon überzeugen konnte, dass er auch in der Kirche war. Meine Mutter kam aus der Nachbarschaft. Als sie noch eine junge Frau war, arbeitete sie eine Zeit lang in Prag als Dienstmädchen für eine Familie der Mittelschicht. Sie teilte die Liebe meines Vaters zur Literatur und war die fleißigste Frau, die ich jemals kennenlernte. Sie war irgendwie immer beschäftigt und hoffte mehr Geld zu verdienen, um uns zu ernähren. Durch das Nähen und die Handarbeit war sie nahezu blind. In dem schwachen Licht unserer Lampen musste sie immer ihre Augen anspannen. Ich liebte sie wie sonst niemanden. Sie war streng zu mir, als ich ein Kind war, und schlug mich, wenn ich mich nicht benahm. Aber sie war immer ge- 10

11 recht. Außerdem war sie immer ehrlich und vollkommen unfähig zu lügen. Ich liebte sie nicht nur innig, sondern war übermäßig stolz auf sie. Trotz ihrer Armut war sie immer gut gekleidet natürlich fertigte sie ihre Kleidung selbst und sie war immer sauber und reinlich, sogar nach der anstrengenden Arbeit auf dem Bauernhof und nach der Reinigung des Hauses. Sie hatte einen starken Charakter und war sehr couragiert. Trotz aller Entbehrungen und Schwierigkeiten in ihrem Leben, sah ich sie nur zweimal weinen. Das zweite Mal war nach der Invasion der Deutschen im Jahre 1939, als ihr Bruder, mein Onkel Vašek, verschwand und sie dachte, dass er von der Gestapo verhaftet wurde. Das erste Mal war, als ich vier Jahre alt war. Wir hungerten und es gab für uns nichts zu essen. Jahre später erzählte sie mir, wie ich versuchte sie zu beruhigen: Wenn ich groß bin, werde ich mich um dich kümmern. Das hatte ich ihr versprochen. Und das ist das einzige Versprechen, auf das ich stolz bin es eingehalten zu haben. Rückblickend bin ich dennoch traurig, dass ich ihr nicht persönlich von meiner Absicht erzählen konnte in den Westen überzulaufen. Ich wusste, sie würde das aus Sorge um mich nicht überstehen. Ich wagte es nicht sie vorher zu besuchen, da ich mir sicher war, dass ich mich überwinden und es ihr erzählen würde. Oder sie hätte instinktiv geahnt, dass sie mich nie wiedersehen würde. Als es dann geschah, war ich sehr besorgt, dass mein Verschwinden ihr Ableben beschleunigt. 11

12 Beeinflusst und ermutigt durch die Liebe meiner Eltern zum Lesen und durch eine gewisse intellektuelle Begabung beendete ich meine Zeit in der Dorfschule als Klassenbester. Meine Eltern nahmen weiterhin große Entbehrungen auf sich, um mich auf ein Gymnasium in der nächsten Stadt zu schicken. Es befand sich in Strakonice in Südböhmen, was einen sieben Kilometer langen Fußweg durch den Wald zur Folge hatte, gefolgt durch eine einstündige Zugfahrt. Einer von meinen Eltern begleitete mich zum Bahnhof, wo ich die Holzschuhe, die mein Vater anfertigt hatte, gegen meine einzigen richtigen Straßenschuhe tauschte. Ich hätte den Spott nicht ertragen, der mir entgegengebracht worden wäre, wenn ich in die Schule mit Holzschuhen gestampft wäre. Ich hatte einen holprigen Start im Gymnasium, teilweise aufgrund meiner ländlichen Herkunft die anderen Jungs waren alle aus der Stadt und teilweise deshalb, da ich der kleinste Junge in der Klasse war. Zu meinem Glück fanden meine Klassenkameraden bald einen anderen Prügeljungen für ihre Hänseleien, als ein neuer Junge mit einem Glasauge zu uns kam. In meiner Familie gab es viele überzeugte Sozialdemokraten. Zu dieser Zeit war es praktisch unmöglich einen Tschechen zu finden, der nicht politisch gesinnt war, egal aus welcher Schicht er kam. Onkel Vašek, der Bruder meiner Mutter, war ein besonders lautstarkes Mitglied der Partei. Er war ein großer Held für mich. Während des 12

13 Ersten Weltkriegs kämpfte er in Russland in der tschechoslowakischen Legion und reiste um die halbe Welt, um nachhause zu kommen. Als ein ausgesprochener Gegner der Sudetendeutschen Partei war er selbstverständlich eine Zielscheibe für die Deutschen, nachdem sie im März 1939 unser Land besetzten. Als er davor gewarnt wurde, dass sie ihn verhaften wollten, verschwand er über Nacht und flüchtete über die polnische Grenze. Dabei tötete er einen Gestapo-Beamten, der versuchte ihn zu aufzuhalten. Zu dieser Zeit war Polen noch frei. In Ostrava beging Onkel Vašek jedoch einen fatalen Fehler. Er schrieb seinem siebzehnjährigen Sohn einen Brief, worin er ihn anflehte, dass er ihm nach Polen folgen sollte. Die Gestapo fing den Brief ab und verhaftete den Sohn. Drei Wochen später erhielt meine Tante ein Paket, welches die frisch gewaschene Kleidung ihres Sohns enthielt. Zudem war eine Nachricht enthalten. Darin stand unverblümt, dass ihr Sohn in einem Konzentrationslager verstarb. Ein weiteres Unglück folgte. Der Bruder meines Vaters heiratete eine Jüdin, deren Familienangehörige glühende Kommunisten waren. Im Jahre 1940 wurden zwölf von ihnen verhaftet und ermordet. Ein elfjähriges Mädchen wurde in einen Sack gesteckt und per Bahn nach Deutschland verschleppt, wobei es auf dem Weg erfror. Ein Jahr später wurden mein Onkel und meine Tante in ein Konzentrationslager gebracht, in welchem sie verblieben, bis die Rote Armee sie 1945 befreite. Deren Kinder kamen bei uns unter. 13

14 Folglich ermittelte die Gestapo gegen meine eigenen Eltern und im Jahr 1941 befahlen sie meinem Schulleiter mich von der Schule zu verweisen. Er hatte keine Wahl. Tatsächlich wurde die Schule aufgrund der landesweiten Studentendemonstrationen kurz darauf geschlossen. Somit endete meine Schulzeit offiziell. In den folgenden drei Jahren arbeitete ich als Hilfsarbeiter auf einem der größeren Bauernhöfe in der Nachbarschaft. Dann fand ich eine Anstellung in einer kleinen Gießerei, die landwirtschaftliche Geräte reparierte. Als die Russen im Januar 1945 heranrückten, wurde ich zusammen mit anderen jungen Männern von den Deutschen zum Arbeitsdienst gezwungen. Wir wurden in die Gebirge von Mähren gebracht, um Bunker und Panzerabwehrstellungen zu errichten. Anfangs arbeiteten wir für die Heimwehr, die von alten und invaliden Männern angeführt wurde, die nicht mehr für den aktiven Dienst geeignet waren. Einen Monat später wurden wir jedoch zur polnisch-tschechischen Grenze verlegt, um an der Hauptkampflinie Panzerabwehrstellungen für die Wehrmacht zu bauen. Die Zustände waren hart. Wir schliefen in läuseverseuchten Wolldecken auf den Gängen einer Schule, zusammen mit einer gemischten Einheit der Hitlerjugend, zu denen wir nur wenig Kontakt hatten. Als Nahrung erhielten wir gekochte Kartoffeln und Karotten und ein wenig Kaffeeersatz. Ich war glücklich, als ich zur Arbeit in den Wald geschickt wurde, wo ich bald Freunde unter 14

15 den heimischen Bauern fand, die mir gelegentlich Verpflegung und zusätzliches Essen gaben. Mit ihrer Hilfe plante ich meine Flucht. Am schwierigsten war es an den deutschen Kontrollpunkten und Wachen vorbeizukommen, die so zahlreich um unser Lager und an allen wichtigen Straßen, Gleisen und Bushaltestellen waren. Dennoch lud mich Anfang April einer der Bauern auf einen Pferdekarren. Er gab mir viel Essen und wertvolle Hinweise über den Weg nachhause. Versteckt in dem Karren, passierte ich die Wachposten und in einiger Entfernung von dem Lager begann ich mit mir selbst zu sprechen. Ich marschierte viele Kilometer durch den Wald, auf holprigen Wegen und entlang an unauffälligen Nebenstraßen, ohne dass ich bemerkt wurde. Ich brauchte drei Wochen. Als ich in der Nähe meines Heimatortes war, wurde ich unvorsichtig, und erlaubte mir den Luxus einer dreistündigen Zugfahrt. Ich kam nachhause zu meinen erstaunten Eltern, die mich euphorisch willkommen hießen. Sie versteckten mich trotzdem noch vierzehn Tage lang auf dem Dachboden, bis die Deutschen kapitulierten. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen tschechoslowakischen Regierung war es die vollständige Enteignung der Sudetendeutschen und deren Vertreibung anzuordnen. Die Kommunistische Partei, die unter Präsident Edvard Beneš an der Regierungskoalition beteiligt war, verkündete, dass der Verdienst allein den Kommu- 15

16 nisten gebührt, und forderte uns arme Bauern auf ins Sudetenland überzusiedeln und die reichen Besitztümer zu übernehmen. Wie die meisten Tschechen vergossen wir keine Träne über das Schicksal der Sudetendeutschen. Mein Vater war jedoch der Erste, der Bedenken äußerte, als wir vorschlugen, dass wir umsiedeln sollten. Was ist, wenn die Deutschen zurückkommen sollten?, fragte er. Niemand außer dir ist verängstigt., antwortete meine Mutter gereizt, Du bist nur ein alter trübseliger Mann. Sie wies auf den Hang oberhalb des Dorfes, wo unsere kleinen Felder dicht gedrängt zwischen den Felsen verliefen: Du bist unfähig diese erbärmlichen Steine zu verlassen. Dabei wachsen bei denen nicht einmal Kartoffeln. Ich war entschlossen einen besseren Hof für uns zu finden und so ging ich eines Nachts im Frühling Ich verließ die Heimat mit ein wenig Proviant und Geld von meiner Mutter, um ins Sudetenland aufzubrechen. Als ich ca. einhundert Kilometer südwestlich von Prag die Kommunalverwaltung in dem kleinem Dorf Vítání erreichte, fand ich heraus, dass die besten Grundstücke bereits verteilt waren. Die Verteilung begann im vorangegangenen Herbst und Priorität hatten die tschechischen Truppenteile, die zusammen mit der Roten Armee gekämpft hatten. Dennoch wusste ich mich glücklich zu schätzen einen Hof mit sieben Hektar Land, zwei Pferden, zehn Kühen, und ein Haus mit drei großen Räumen zu erhalten ein Landgut im Vergleich mit dem Flicken 16

17 meines Vaters. Die vorherigen Besitzer, ein altes deutsches Ehepaar mit drei erwachsenen Töchtern, waren noch vor Ort und warteten auf die Rückführung nach Deutschland. Merkwürdigerweise zeigten sie keinen Groll mir gegenüber. Vielleicht waren sie erleichtert darüber den Hof einen Bauernsohn zu übergeben und nicht den Betrügern, die dort 1945 aus den Städten einfielen, um sie auszunehmen. Bis meine Eltern nachzogen arbeitete ich zehn Monate lang zusammen mit dieser Familie auf meinem neuen Hof wie ein Landarbeiter. Sie wuchsen mir so sehr ans Herz, dass ich ernsthaft über ihre Zukunft besorgt war, als sie gingen. Meine Eltern zogen nach. Der Vorsitzende des Kreisparteikomitees der Kommunistischen Partei war so ziemlich der hartnäckigste Gast unter unseren Besuchern. Seid ihr Parteimitglieder?, fragte er uns. Ich empfehle euch, dass ihr alle betretet. Wir sind allesamt Kommunisten hier. Als mein Vater Zweifel ausdrückte, setzte ihn der Vorsitzende unter Druck. Was denkst du, wem du dieses Haus und diesen Hof zu verdanken hast?, fragte er und antwortete selbst: Durch die Anstrengungen der Kommunistischen Partei. Wir füllten das Anmeldeformular für die Mitgliedschaft aus, auch wenn mein Vater ein ungutes Gefühl dabei hatte. Dennoch hängte er ordnungsgemäß ein Portrait von Stalin an der Wand auf, wo wir bereits Bilder von Jesus Christus, der heiligen Mutter Gottes und von 17

18 Präsident Beneš hatten. Ich selbst hatte keinerlei Bedenken und wurde ein leidenschaftliches Parteimitglied, weil ich tatsächlich davon überzeugt war, dass sich durch die Kommunisten unser Lebensstandard verbessert hatte. Mein Vater gab mir jedoch eine Warnung für die Zukunft: Hör mir zu, Jan! Ich weiß viel über den Marxismus und kann dir sagen, dass dieses Land, früher oder später, vollständig kollektiviert wird. Der Großteil der neuen Zuwanderer trat der Partei bei. Als einer der wenigen, welche die Sekundarstufe abgeschlossen hatten, wurde ich schnell der Kreisvorsitzende und Propagandist für die kommunistische Jugendorganisation. Ein Jahr später war ich für deren Bezirksparteikomitee tätig und ein Kommissar der heimischen Miliz. Ich war ein begeisterter Unterstützer des Marxismus- Leninismus, nahm regelmäßig an Vorlesungen der Partei teil, und führte umfangreiche Studien durch, um die Theorie und die Doktrin zu verstehen. Bald war ich bereit und begierig mein Wissen zu verbreiten, um andere zu überzeugen. Ab Ende 1946 bestand mein Auftrag im Wesentlichen darin die heimischen Bauern zu indoktrinieren, um ihre Unterstützung für die Partei zu gewinnen, und um die Angehörigen der Bourgeoisie zu diskreditieren. Vor dem Februarumsturz 1948 arbeitete die Partei in Zusammenarbeit mit den Sowjets energisch daran die breite Unterstützung zu erreichen. Als wir 1947 eine Dürre und Nahrungsmittelknappheit hatten, sandte uns Stalin Weizen. 18

19 Die Bauern waren jedoch von Natur aus konservativ und sie neigten dazu unseren Versprechungen von Utopia mit einer Menge Skepsis zu begegnen. Das erste Mal, als ich eine Zusammenkunft mit den Bauern eigenständig ausrichten musste, war ich wie versteinert von ihrer Feindseligkeit, sodass ich vielversprechend zusicherte, dass die Partei den Großteil ihrer Forderungen bewilligen würde. Nur durch Zufall nicht durch die Bemühungen der Partei wurden viele dieser Forderungen zügig umgesetzt, wie zum Beispiel die Abschaffung der Lebensmittelmarken. Dadurch gewann ich den unverdienten Ruf als jemand, der Dinge umsetzen kann. Selbstverständlich machte ich mir auch Feinde. Einige von ihnen waren gefährlich. Bei einer Zusammenkunft nutzte ein Bauer die Gelegenheit und versuchte auf mich zu schießen. Glücklicherweise war sein Nebenmann kräftiger als er und entwaffnete ihn, als er gerade mit seiner Pistole zielte. Einen beängstigenderen Zwischenfall hatte ich am Folgetag nach einer weiteren Zusammenkunft, als ich auf dem Motorrad, welches mir die Partei für meine Pflichterfüllung gab, nachhause fuhr. Ich raste schnell durch den Wald, tief geduckt über der Lenkstange, als ich fühlte, wie etwas über meine Haare streifte. Ich ging zurück, um dem nachzugehen. Es war ein Draht, der über die Straße zwischen zwei Bäumen gespannt wurde. Wenn ich aufrecht im Sattel gesessen hätte, dann hätte er meinen Kopf abgetrennt. 19

20 Einer meiner Aufträge im Jahre 1947 bestand darin die Treffen anderer Parteien der Regierungskoalition zu stören. Wir füllten die Halle mit unseren eigenen Unterstützern. Sobald der Redner anfing zu sprechen brüllten wir ihn nieder und bewarfen ihn mit Eiern und Tomaten, um letztendlich einen Aufruhr zu provozieren. Nach dem von den Sowjets initiierten Februarumsturz der Kommunisten im Jahre 1948 wurden sämtliche Treffen der konkurrierenden Parteien verboten. Kurz nach dem Umsturz entsandte mich die Partei zu einer Zusammenkunft in einem Dorf, in welchem die Einwohner Tschechen waren, die vor 1945 noch Sowjetbürger waren. Sie wussten was Kommunismus bedeutet und wollten kein Teil mehr davon sein. Nach dem Treffen stürmte eine Gruppe von ihnen in das Restaurant hinein, in dem ich und einige meiner Freunde aßen. Sie schleiften uns raus und warfen uns alle in den Fluss. Zum Glück war ich ein guter Schwimmer. Die Kollektivierung begann ein Jahr später, wodurch die Feindschaft der Bauern selbstverständlich zunahm. Sie wussten, dass dies nun den Verlust ihres Landes bedeutet. Sie richteten ihren Zorn gegen alle von uns, die sie aktiv dazu gegängelt hatten in die Partei einzutreten, um deren Macht zu festigen. Und als das eifrigste und aggressivste Parteimitglied, war ich oftmals derjenige, der was einstecken musste. Einmal, als ich mit einer Freundin zum Kulturhaus ging, packte mich eine kleine Gruppe der Bauern und verprügelte mich, obwohl alle von ihnen 20

21 Kommunisten waren. Ich sah einige von den Angreifern bei der Parteisitzung am nächsten Tag. Ich zeigte sie dennoch nicht bei der Polizei an. Stattdessen versuchte ich sie als solche zu verspotten, die unfähig sind mit ihrem Gegenüber vernünftig zu reden. Das schlimmste Ereignis war in einem Dorf nahe der deutschen Grenze, wo ich von einer aufgebrachten Menschenmenge umzingelt wurde. Hätte nicht jemand die Polizei gerufen, dann hätten sie mich ich umgebracht. Einige meiner Genossen wurden totgeprügelt. Ich muss zugeben, dass ich keine Reue empfand, was meine Rolle bei der Täuschung der Bauern betrifft. Ich war davon überzeugt, dass dies auf lange Sicht in ihrem Interesse sei. Unmittelbar nach dem Umsturz von 1948 begann die Partei im gesamten Land damit die Bourgeoise zu verfolgen. Viele bekannte Industrielle, Großbauern, Spitzenpolitiker, verdächtige Polizeibeamte und Armeeoffiziere wurden verhaftet oder sind verschwunden. Ich war noch zu unbedeutend, um an dieser Säuberung teilzunehmen. Jedoch drei Jahre später, als ich im Alter von einundzwanzig Jahren der Sekretär des Bezirkslandwirtschaftskomitees wurde, gab es eine weitere Welle von Verhaftungen der bürgerlichen Elemente in diesem Fall alle Nichtkommunisten, die auf kommunaler Ebene mehr Einfluss als die Parteimitglieder genossen. Mein Komitee hatte entsprechende Listen vorzubereiten. Die aufgeführten Personen wurden ohne Gerichtsverhandlung verhaf- 21

22 tet und für drei oder vier Jahre in einem Arbeitslager festgehalten. Deren Eigentum wurde beschlagnahmt. Ich handelte ohne Gewissenbisse. Ich war ein überzeugter Kommunist und betrachtete die Betroffenen als Feinde der Revolution. Meine Haltung dürfte für den einen oder anderen nachvollziehbarer sein, wenn man berücksichtigt, dass ich in extremer Armut aufgewachsen bin. Trotz meiner sozialdemokratisch gesinnten Eltern, bewunderte ich immer meinen Onkel und andere Verwandte, die vor dem Krieg bereits Kommunisten waren. Viele von ihnen starben durch die Nationalsozialisten. Und wie ich bereits erwähnte, rechnete ich unseren Ausweg aus der Armut dem Einfluss der Kommunistischen Partei zu, jener Partei, die mir nun die Möglichkeit bot eine führende Rolle bei den gesellschaftlichen Entwicklungen einzunehmen. Als ich den Marxismus-Leninismus studierte, schien es so, als würde er mir die Chance auf ein neues Leben und einen neuen Sinn bieten. Und so wurden die Anliegen der Partei auch meine Anliegen deren Feinde ebenfalls. Ich denke jedoch, dass ich meine Menschlichkeit niemals vollständig verlor. Zumindest kann ich von mir behaupten, dass ich bei meinem Aufstieg in der Partei nicht über Leichen ging. Mein Vater wurde 1949 zum Vorsitzenden der Dorfgemeinde ernannt, nicht weil er ein guter Bauer oder ein engagiertes Parteimitglied war, sondern weil er in der Gemeinde beliebt und gut vernetzt war. Allerdings redete er zu freimütig und schaffte es sich sowohl mit dem 22

23 Ersten Sekretär des Kreisparteikomitees als auch mit dem lokalen Vertreter des StB (Staatssicherheit) zu zerstreiten. Einmal belauschte ich sie, wie sie über meinen Vater diskutierten. Der StB-Offizier schlug vor ihn als Saboteur zu verhaften. Glücklicherweise war der Nachrichtendienstler in derselben Nacht voll wie eine Haubitze und brachte sich auf seinem Motorrad selbst um. Kurz darauf wurde der Erste Sekretär zum Opfer einer Parteiintrige und verschwand. Im Herbst 1950 wurde ich zum Militärdienst eingezogen und beim Pionierbataillon 11 in Plzeň (den Biertrinkern besser bekannt als Pilsen) eingesetzt. Am 20. Oktober rasierte mir meine Mutter den Kopf wir wollten diese Sache nicht einem Militärfriseur überlassen. Mein Vater fuhr mich auf dem Traktor zum Bahnhof, damit ich mein Leben als Soldat beginnen konnte. Aufgrund meines Parteihintergrunds ernannte mich der Politoffizier des Bataillons zum Propagandisten meiner Kompanie. Jahre später wurde er meinem Kommando unterstellt. Eine Woche nachdem ich meinen Dienst bei der Volksarmee antrat, wurde der Verteidigungsminister, General Ludvík Svoboda, durch Alexej Čepička, den Schwiegersohn von Präsident Klement Gottwald, ersetzt. General Svoboda war damals noch nicht die große nationale Persönlichkeit, die er zumindest für westliche Beobachter während und nach dem Jahr 1968 wurde. Er genoss jedoch das Prestige die tschechischen Truppen komman- 23

24 diert zu haben, die mit der Roten Armee kämpften. Der Allgemeinheit blieb jedoch verborgen, dass er ebenso ein Mitglied der Kommunistischen Partei war. Als Verteidigungsminister unter Beneš leistete Svoboda im Jahre 1948 der Partei einen wertvollen Dienst, indem er den Streitkräften anordnete nicht gegen den Umsturz zu intervenieren, wodurch die Kommunisten die Macht im Land übernahmen. Der Grund für seine Abberufung lag darin, da die sowjetische Führung entschieden hatte unsere Armee vollständig nach dem Vorbild der Roten Armee umzustrukturieren. Deshalb fanden sie es zweckdienlicher auf dem Posten von Svoboda den fanatischen Stalinisten Čepička einzusetzen. Innerhalb kürzester Zeit verdreifachten die tschechoslowakischen Streitkräfte ihre Truppenstärke und glichen Ausrüstung, Ausbildung und Militärrecht an die Rote Armee an. Zudem übernahmen sie das System der Politoffiziere hinunter bis zur Kompanieebene. Nach meiner sechswöchigen Grundausbildung wurde ich zur Unteroffizierschule versetzt. Die Partei war permanent auf er Suche nach vielversprechenden jungen Männern. Aufgrund meines Parteihintergrunds und der schlagartigen Aufstockung der Politoffiziere fand ich mich schon bald auf der Ersten Schule für Politoffiziere in Velvěty wieder, welche ca. fünfundsechzig Kilometer von Prag entfernt war. Das Leben an dieser Schule war schwierig. Wir arbeiteten jeden Tag von sieben Uhr bis zweiundzwanzig Uhr, wobei sechzig Prozent der Zeit 24

25 dem Studium des Marxismus-Leninismus und vierzig Prozent der militärischen Ausbildung gewidmet wurden. Im Februar 1951, als der sechsmonatige Lehrgang zur Hälfte absolviert war, erhielt ich meine erste Beförderung. Ich wurde zum Unteroffizier ernannt. Dies war eine Zeit der politischen Unruhen und der großangelegten Schauprozesse gegen die alten Parteiführer. Die meisten von ihnen waren Juden. Dies gipfelte im Jahre 1952, als Rudolf Slánský, Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, aufgrund von Titoismus zum Tode verurteilt wurde. Slánský begann 1948 das Blutvergießen und setzte es bis 1951 fort. Damals waren die Opfer bürgerliche Elemente und Klassenfeinde. Nun hat ihn das Vorgehen selbst ereilt. Später fand ich heraus, dass bei den letzten Säuberungen zweitausend Tschechen und Slowaken ihr Leben verloren. Ungefähr dreihunderttausend wurden inhaftiert. Niemand konnte sich sicher fühlen. Um die Kader auf Trapp zu halten, und um uns alle in die allumfassende Säuberung einzubeziehen, versuchte die Führung uns aufzuzeigen, dass feindliche Elemente überall in der Partei seien. Um Feinde der Partei aufzuspüren, hatten wir an der Schule eine offene Versammlung, die eine Woche lang ging. Vorsitzender war ein Beamter der politischen Abteilung des Verteidigungsministeriums. Es endete zu unserer Befriedigung mit der Abberufung unseres sehr unbeliebten Kommandeurs. 25

26 Im Mai 1951 absolvierte ich die Ausbildung im Dienstgrad Unterleutnant ohne verfolgt zu werden und wurde Politoffizier und Stellvertretender Kommandeur des Pionierregiments 63 in Terezín. Im September 1952 wurde ich zur Pionierbrigade 51 in der Kleinstadt Litoměřice, ca. fünfzig Kilometer nördlich von Prag, versetzt und als Politoffizier und Stellvertretender Kommandeur eingesetzt. In der neuen Verwendung wurde ich das erste Mal mit den sowjetischen Militärberatern in Verbindung gebracht, als ein Oberst zu unserer Brigade versetzt wurde. Er war sehr gewillt mit uns zusammenzuarbeiten, als er sich mit den tschechischen Bedingungen vertraut gemacht hatte. Als ich mit ihm um seine neue Villa ging, fragte er zögerlich: Welcher dieser schönen Räume ist für mich und meine Familie? Es dauerte eine Zeit lang ihn davon zu überzeugen, dass ihm die gesamte Villa zugeteilt wurde. Kurz vor dem X. Parteitag im Sommer 1953 teilte mir der Erste Sekretär des Kreisparteikomitees seine Befehle vom Zentralkomitee (ZK) mit, wonach ich für die Kreiskonferenz der Partei ausgewählt wurde. Er erklärte, dass dies automatisch meine Nominierung für die Bezirkskonferenz der Partei zur Folge hatte, bei welcher ich zum Delegierten für den X. Parteitag auserwählt werden würde. Er ergänzte: Außerdem ist dir von nun an ein Sitz im ZK der Partei sicher. Dies war die höchste Ebene in der Parteihierarchie. Und ich war weiterhin naiv genug zu glauben, dass meine Wahl noch angefochten wird. Tat- 26

27 sächlich wurde ich im folgenden Jahr einstimmig gewählt. Währenddessen wurde ich im Jahr 1953 zum Oberstleutnant ernannt und wechselte auf den Dienstposten des Politoffiziers beim Pionierkorps. Im Frühling 1954 telefonierte der Erste Sekretär der Partei mit mir persönlich, um mir mitzuteilen, dass ich zum Abgeordneten für Nordböhmen in die Volkskammer gewählt werde, um den Bezirk Litoměřice zu repräsentieren. Als ich bei meinem Vorgesetzten in Prag, General Zeman, beanstandete, dass ich nicht für vier Jahre in Litoměřice eingesetzt werden möchte: Ich soll ein gewählter Abgeordneter für die Volkskammer der Tschechoslowakei werden. Ich habe jedoch nicht die geringste Absicht dorthin umzuziehen. Er lachte. Und so fand ich mich selbst im Alter von siebenundzwanzig Jahren als Oberst, als Politoffizier, als Abgeordneter der Volkskammer und als Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) wieder. Seitdem ich im Westen lebe, werde ich oft gefragt, wie ich solch einen rasante Aufstieg schaffte. Schließlich wurde ich bereits mit vierzig zum General ernannt. Dabei war an meiner Karriere nichts Ungewöhnliches. Einige meiner Weggefährten an der Schule für Politoffiziere waren sogar noch erfolgreicher. Mein Freund General Prchlík zum Beispiel wurde bereits mit zweiunddreißig zum Generalmajor ernannt. Es war immer Bestandteil der Par- 27

28 teirichtlinie die jungen Leute zu fördern heute würde ich ausnutzen sagen und ihnen in jungen Jahren Macht anzuvertrauen. Als ich nach Abschluss der Schule für Politoffiziere wieder zur Armee ging, war ich erstaunt über das Ausmaß meiner Macht. Nicht alle konnten damit umgehen. Von den fünfhundert Weggefährten an der Schule behielten nur rund einhundert ihren Einfluss. Die meisten wussten nicht, wie sie ihre Position einsetzen sollten, außer für das persönliche Vergnügen das beste Essen und Trinken, Frauen, schnelle Autos wovon sie bald nichts mehr hatten. Die anderen, wie ich, waren fanatische Kommunisten und arbeiteten pausenlos. Es wurde oft behauptet, ich hätte meinen Aufstieg meiner Freundschaft zum Sohn des Präsidenten, Antonín Novotný, zu verdanken. Begründet wurde dies damit, weil wir zusammen in der Armee als Kommissare dienten. Das ist jedoch vollkommen falsch. Es war einfach harte Arbeit. Wenn du in jungen Jahren Macht hast, neigst du dazu die Frage nach Richtig oder Falsch zu ignorieren, insbesondere wenn man durch hohe Einsatzbereitschaft kurzsichtig geworden ist, so wie es bei mir war. Mit der Zeit fängst du an darüber nachzudenken, ob das, was du tust, falsch ist. Jedoch ist es dann zu spät. Du bist bereits in der Parteimaschinerie verwickelt und ein Teil des Systems. Du hast nur zwei Möglichkeiten: Entweder schreitest unverändert voran, oder du sprichst deine Meinung aus, wirst aus der Partei ausgeschlossen und bist gezeichnet fürs Leben. Im letzteren Fall bist nicht nur du selbst erle- 28

29 digt, sondern auch deine Familie deine Ehefrau, Kinder, und deine Eltern würden grausam verfolgt werden. Das ist die Art und Weise wie die Kommunistische Partei die jungen Leute ausnutzt. 29

30 2 Chruschtschow und die Entstalinisierung Mit dem Tod von Josef Stalin im Jahre 1953 und der kurz darauffolgenden Hinrichtung von Lawrenti Beria, dem Chef des Nachrichtendienstes, wurden die großangelegten Säuberungen und die blutigste Epoche der russischen Geschichte seit Iwan dem Schrecklichen beendet. Sowohl in den osteuropäischen Satellitenstaaten als auch in der Sowjetunion fragten sich die Bürger besorgt, wie es ihnen unter dem Nachfolger des Tyrannen ergehen wird. Zunächst zeichnete sich eine dreiköpfige Führung unter Georgi Malenkow, Nikolai Bulganin und Nikita Chruschtschow ab, die durch Wjatscheslaw Molotow und Lasar Kaganowitsch unterstützt wurde, wobei Malenkow offensichtlich die führende Rolle einnehmen sollte. Es dauerte fast zwei Jahre bis Chruschtschow eine dominierende Position in der Führung einnahm. Zwischenzeitlich hatte ich im Juni 1954 meine erste Zusammenkunft mit ihm beim X. Parteitag der KPTsch, an dem wir als Delegierte für die Sowjetunion bzw. für Nordböhmen teilnahmen. Unter den Russen war Jekaterina Furzewa, Erste Sekretärin im Moskauer Bezirksparteikomitee und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ZK der KPdSU). Sie war früher Chruschtschows Geliebte. Seit ihrer Zeit in der Moskauer Parteibürokratie war sie seine stärkste Befürworterin. 30

31 Unser Parteitag wurde in der Kultur- und Freizeithalle im Fučík-Park in Prag abgehalten. Julius Fučík war ein kommunistischer Held, der während des Krieges von der Gestapo hingerichtet wurde, weil er ein Mitglied des ZK der Partei war. Seit dem Tod unseres stalinistischen Präsidenten, Klement Gottwald, war es der erste Parteitag, der abgehalten wurde. Er diente dazu, um die Fortführung von Gottwalds Richtlinien zu bekräftigen. Es waren Delegierte aus anderen osteuropäischen Ländern und aus den kommunistischen Parteien des Westens anwesend; ausgenommen die Jugoslawen. Sie mussten einen Redner nach dem anderen zu hören, die eintönig vom marxistisch-leninistischen Dogma redeten und gegen den westlichen Imperialismus agitierten. Außerdem wurde unermüdlich ermahnt die Wachsamkeit gegenüber den allgegenwärtigen Saboteuren, Spionen und Parteifeinden aufrechtzuerhalten. Die dringenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme unseres Landes wurden kaum erwähnt. Ich wurde in der Nähe des Podiums platziert. Von dort aus konnte ich die tschechischen und ausländischen Parteiführer genau beobachten. Chruschtschow fiel mir besonders auf, da er sich völlig von dem typischen Sowjetbürokraten unterschied. Er trug die schlechtsitzende Jacke mit der Schlabberhose und die einfachen Schuhe des üblichen Parteiapparatschiks vermutlich ein Überbleibsel aus der Stalin-Ära, als es noch als gutbürgerlich galt gut gekleidet zu sein, wodurch es gefährlich war. Er 31

32 strahlte jedoch eine Persönlichkeit und Vitalität aus und machte sogar häufig Scherze gegenüber unserem Ersten Sekretär, Antonín Novotný, die sogar dessen strenges Gesicht zum Lachen brachten. Tatsächlich sah er aus wie ein typischer Muschik (russischer Bauer). Ihm war der stalinistische Kurs des Parteitages offensichtlich unangenehm. Er verhielt sich unruhig, wenn die Redner ihre Floskeln brüllten. Chruschtschow applaudierte für sie nur wenig. Seine eigene Rede, deren Text man bereits an uns verteilt hatte, wurde vom sowjetischen Politbüro freigegeben und gab keinen Anhaltspunkt über seine Einstellung, auch wenn in ihr Stalins Name weniger häufig erwähnt wurde als in den meisten anderen Reden. Er sprach uns auf Russisch an, was wir natürlich alle verstanden. Es war bei uns Pflichtunterricht an allen Schulen und jedes höhere Parteimitglied musste Russisch sprechen können. Gegen drei Uhr nachmittags kam auf dem Parteitag plötzlich Stimmung auf. Der Erste Sekretär, Novotný, trat hervor und teilte uns mit, dass Chruschtschow um Erlaubnis für eine vertrauliche Rede bat. Zuvor wurde noch keine vertrauliche Rede gehalten. Schon allein die Vorstellung, dass ein Russe vom Stande eines Chruschtschows ernsthaft um unsere Erlaubnis fragte, war beispiellos. Indessen wurde die Halle geräumt und wir gingen in eine Einzelsitzung. 32

33 Es war offenkundig, dass Chruschtschow keinen Vortrag vorbereitet hatte. Er bezog sich gelegentlich auf die Punkte, die auf seinem Notizblock standen. Genossen und werte Delegierte., begann er mit lauter und klarer Stimme, Von diesem Parteitag bin ich enttäuscht. Die bisherigen Reden waren äußerst dürftig. Nach meiner Einschätzung mangelt es Ihnen an Ernsthaftigkeit und an realistischen Ideen, insbesondere bei Ihrer Haltung gegenüber den kapitalistischen Ländern. Nachdem er damit reinplatzte, setzte er sogleich fort: Wir müssen unsere Beziehungen mit dem Westen verändern. Das sozialistische Lager muss die Möglichkeit nutzen einen Vorteil aus dem technischen und industriellen Fortschritt des Kapitalismus zu ziehen. Das ist ein bedeutender Schritt zur Vollendung des Sozialismus. Lassen Sie sich nicht von der Ideologie blenden! Die sozialistischen Ideale, ergänzte er seine Rede, die ich niemals vergessen werde, können nur triumphieren, wenn die Bürger Osteuropas wie die Delegierten dieses Parteitages essen können. Die Liebe zum Kommunismus geht durch den Magen. Er forderte alle kommunistischen Länder dazu auf ihre technischen und wissenschaftlichen Kader zu mobilisieren. Es ist egal, ob sie gute Marxisten sind!, brüllte er. Wir müssen der Wissenschaft freie Hand geben, damit sie so viel wie möglich vom Westen abschöpfen können. Jeder von Ihnen, der das kapitalistische Ingenieurwesen als eine Erfindung der Bourgeoise verflucht, ist ein Idiot. 33

34 Es ist belanglos, wo die Maschine hergestellt wurde. Wichtig ist, wozu sie genutzt wird. In den letzten drei Tagen haben Sie alle behauptet, dass die Technologie der Kommunisten die Beste sei. Gut, Sie haben gelogen. Die westliche Technologie ist in den meisten Bereichen überlegen. Und es ist unsere Pflicht als Kommunisten dies auszunutzen. Die Amerikaner zum Beispiel haben die besten Mähdrescher in der Welt. Also, dann kaufen wir sie eben. Und wenn sie eine grüne Lackierung haben, dann lackieren wir sie rot. Lassen wir sie für den Kommunismus arbeiten. All das war eine willkommene Abwechslung nach dem geschwollenen Nonsens, den wir von den Delegierten hörten. Zum Schluss beendete er seine Rede in unserem Sinne mit einem Verweis auf unsere eigenen Wirtschaftsprobleme: Den Arbeitern und den Leitenden muss mehr Verantwortung übertragen werden. Nur auf diesem Weg können sie die Produktivität stärken und somit den Lebensstandard steigern. Jeder muss bei der Entwicklung teilhaben. Es ist die Pflicht der Partei diese neue Idee zu verstehen und zu fördern. Sie müssen sich öffnen und frischen Wind reinlassen und Sie müssen erkennen, dass dieser zuerst durch die Partei bläst. Die Rede wurde häufig durch Applaus unterbrochen. Zum Schluss erhielt Chruschtschow einen langanhaltenden Beifall von uns. Diejenigen, die in der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion eingesetzt wurden, waren voller Begeisterung. Die alten Bürokraten erahnten 34

35 jedoch in der Rede eine Gefahr für ihre eigene Position. Die Reaktion auf dem Podium war zurückhaltend. Novotný ging dennoch dazu über es zu unterstützen, nachdem er sich abgesichert hatte. Die sowjetische Delegation applaudierte herzhaft für Chruschtschow, wenn gleich er vermutlich die Teilnehmer selbst ausgesucht hatte. Nach dieser erfrischenden Einlage zog sich der Parteitag noch bis zum Ende mit weiteren Reden der Delegierten, die vorbereitet und genehmigt wurden, und welche die Lehrmeinung der vorhergehenden Reden widergaben. Ich war selbstverständlich danach bestrebt diesen ungewöhnlichen Parteiführer gegenüberzutreten und schloss mich einer Gruppe an, die sich während einer Kaffeepause um ihn sammelte. Jemand ließ mich nach vorne und stellte mich vor. Chruschtschow musterte mich genau und war offensichtlich über mein junges Aussehen amüsiert ich war nicht größer als einen Meter siebzig, wog nur etwas mehr als fünfzig Kilogramm, sah jünger aus als meine siebenundzwanzig Jahre, und war dabei das jüngste Mitglied des ZK bei den nächsten Wahlen zu werden. Guten Tag, Jungpionier., grüßte er freundlich und schüttelte mir die Hand. Später, wann auch immer wir uns trafen, begrüßte er mich als Jungpionier der Bezeichnung der jüngsten Abteilung des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation. Der Parteitag endete auf der Burg Hradčany mit einem Empfang durch unseren Staatspräidenten Antonín Zápo- 35

36 tocký. Der Empfang wurde für die ausländischen Delegierten und für das ZK der Partei abgehalten, zu welchem ich ebenfalls eingeladen war. Die sowjetische Delegation, unser Politbüro, und einige prominente Mitglieder von unserem ZK wechselten schon bald in einen separaten Raum. Ich blieb mit den anderen zurück und unterhielt mich mit Novotnýs Sohn, der ebenfalls Antonín hieß. Er war sehr charmant und widmete sein ganzes Leben dazu, um eine schöne Zeit zu haben oftmals zur Verwirrung und Blamage seines enthaltsamen Vaters. Während wir zusammen tranken, kam einer der Leibwächter von seinem Vater mit einer Anweisung zu uns, wonach sich Antonín zu der Gruppe im separaten Raum gesellen solle. Antonín genoss jedoch die Feier hier. Er lächelte den Leibwächter freundlich an. Spring in den Fluss, mein werter Genosse!, lallte er. Der Mann ging fort, um nur ein paar Minuten später mit einer unabweisbaren Aufforderung des Ersten Sekretärs zurückzukommen. In Ordnung, seufzte Antonín. Er legte seinen Arm um meinen. Komm mit, Jan! Wir werden beide gehen. Es könnte lustig werden Chruschtschow zuzuhören. Chruschtschow war lebendig und dominierte das Gespräch unter den annähernd dreißig Personen in dem kleinen Raum. Er belustigte sie, indem er unseren Minister für Gesundheitswesen aufgrund dessen häufigen Konsultationen mit dessen Gegenpart in Moskau stichelte eine Frau, von der viele wussten, dass er eine 36

37 Affäre mit ihr hatte. Chruschtschow wechselte bald das Thema seines Privatgesprächs. Wenn wir den Rückgang unserer Bewegung beenden wollen, sagte er, haben wir keine Alternative zur friedlichen Koexistenz. Dies ist der einzige Weg für das Voranschreiten des Kommunismus. Wir benötigen jedoch mehr als Vorträge, um die alten Richtlinien zu verändern. Wir müssen beweisen, dass wir unseren Weg ändern wollen. Und der einzige Weg, um den Westen davon zu überzeugen, ist es, dass wir auf höchster Ebene Verantwortung für unsere Fehler in der Vergangenheit übernehmen. Er nannte Stalin nicht beim Namen. Wir verstanden jedoch alle, was er meinte. Es ist einfach dumm, ergänzte er, anzunehmen, dass das Volk nichts über unsere vergangenen Fehlschläge weiß. Es gab dabei eine Unterbrechung, als der tschechische Komponist Dobiáš, ein Mitglied des ZK, plötzlich entschied dazuzustoßen. Er taumelte auf seinen Füßen und es war offensichtlich, dass er betrunken war. Völlig aus dem Zusammenhang gegriffen, gratulierte er dem großen Mann für die Einleitung einer Ära des Weltfriedens. Chruschtschow, der noch nie der geduldigste Mensch war, wandte sich abrupt zu ihm und befahl ihm still zu sein. Durch friedliche Koexistenz., fauchte er, Ich meine nicht Pazifismus. Ich meine eine Politik, die den Imperialismus zerstören und die Sowjetunion und ihre Ver- 37

38 bündeten zur stärksten Wirtschafts- und Militärmacht in der Welt machen wird. Es ist von Bedeutung zu verstehen, schlussfolgerte er in drei einprägsamen und bedrohlichen Sätzen, dass diese neue Diplomatie nur erfolgreich sein wird, solange ein Marschall der Sowjetunion hinter jedem Diplomaten steht. Friedliche Koexistenz ist kein Klassenfrieden. Es kann keinen Weltfrieden geben, solange noch ein Imperialist am Leben ist. Später ging Chruschtschow wieder zu seinen Überlegungen zur Vergangenheit über. Wir verhafteten eine ganze Generation von Wissenschaftlern, Fachkräften, Geschäftsführern, und guten Parteiaktivisten nur aus dem Grund, weil der NKWD sie als Verräter denunzierte. Das ist unverzeihlich. Als gute Kommunisten müssen wir nicht davor zurückschrecken in die Lager zu gehen, diese Menschen zu befreien, uns für die Vergangenheit zu entschuldigen, und sie zurück in unsere Bewegung zu bringen. Wir brauchen solche Leute. Dies war zu viel für den Leiter des Büros des Sekretariats des ZK, Bruno Köhler, der ein überzeugter Stalinist war. Er warf ein: Sicherlich wird es ausreichen sie freizulassen. Wir müssen uns nicht auch noch bei ihnen entschuldigen. Köhler, ein gebürtiger Deutscher, nahm unter der Führung der Russen eine bedeutende Rolle während der tschechischen Säu--berungen ein. Er hatte einen Sitz bei dem Komitee, welches die Opfer verhörte und die Urteile 38

39 fällte. Er genoss das volle Vertrauen und den Schutz des MWD, dessen willfähriger Diener er war. Und er verstand es weiterhin großen Einfluss auszuüben, sogar auch noch nach der Entstalinisierung. Seine Unterbrechung verärgerte Chruschtschow. Niemand wird den Kommunisten trauen, sagte er, wenn das alles ist, was wir tun. Die Partei muss vor dem Volk um Verzeihung bitten für die Vergangenheit. Er war sehr aufgebracht uns zu ermahnen, dass wir solche Parteikader, die durch ihre Vergangenheit kompromittiert wurden, ersetzen müssten, da die Veränderung sonst nicht bewältigt werden könnte. Als er sein Glas für das ZK der tschechoslowakischen Partei erhob, bemerkte ich einige verunsicherte Gesichter unter den Teilnehmern. Bruno Köhler murmelte verärgert: Wenn Chruschtschow glaubt, er könne Stalins Andenken angreifen, dann liegt er vollkommen falsch. Chruschtschow hatte jedoch bereits genau das getan. Und nach meiner Wahrnehmung geschah dies schon vor dem formellen Beginn des Parteitages. Ich erreichte frühzeitig die Konferenzhalle und saß mit meinen aufgesetzten Kopfhörern bereit, um der informellen Podiumsdiskussion zwischen Chruschtschow und Novotný zuzuhören. Ich hörte wie Chruschtschow Novotný fragte: Wo ist General Svoboda? Svoboda, der 1950 verfolgt und als Verteidigungsminister durch den Stalinisten Alexej Čepička ersetzt wurde, arbeitete zu dieser Zeit als Buchhalter in einer 39

40 Produktionsgenossenschaft. Es folgte ein betretenes Schweigen auf Chruschtschows Frage. Danach erklärte Novotný wie Svoboda von der Führung auf Stalins Befehl abgesetzt wurde, da dieser zu sehr zum Westen tendierte. Čepička, der gegenüber von Chruschtschow saß, fügte hinzu: Svoboda war außerdem ein westlicher Spion. Ich sah, wie sich Chruschtschow ihm voller Wut zuwandte. Was haben Sie während des Krieges getan? Zweifelsohne für Hitler gearbeitet. Tatsächlich spielte Čepička keine Rolle im gesamten Krieg. Chruschtschow fuhr fort: General Svoboda kämpfte für sein Land mit dem Gewehr in der Hand gegen die Faschisten. Was braucht es mehr, um seinen Patriotismus zu beweisen? Am nächsten Tag wurde Svoboda hastig von seiner Produktionsgenossenschaft abberufen, um beim Parteitag als offizieller Gast der Partei aufzutreten, und um auf beiden Wangen von Chruschtschow vor uns allen geküsst zu werden. Kurz darauf wurde er zum Kommandeur der Kriegsschule in Prag ernannt und im November wurde er ein Vertreter der Volkskammer und ein Mitglied des Ministerrates. Ich hatte bereits die Schuld der Partei gegenüber Svoboda erwähnt, was seine Rolle beim Februarumsturz 1948 betrifft. Er hatte jedoch auch eine enge Freundschaft zu Chruschtschow während des Krieges begonnen. Svoboda kommandierte das tschechoslowakische Korps, welches zusammen mit der Roten Armee an der Ukrainischen 40

41 Front unter Marschall Iwan Konew diente, dessen Frontkommissar damals Chruschtschow war. In Wirklichkeit war Svoboda kein besonders talentierter Offizier und er wurde aufgrund der hohen Verluste im Korps unter seiner Führung für eine Weile von seinem Kommando enthoben. Chruschtschows Zuneigung für ihn überdauerte jedoch. Über die Jahre hinweg, bis zu seinem Sturz im Jahre 1964, habe ich Chruschtschow häufig getroffen, manchmal wenn ich einen Besuch in Moskau machte, und immer wenn er nach Prag kam. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir enge Freunde wurden. Dennoch, wenn ich zurückschaue, kann ich sagen, dass ich Chruschtschow wirklich bewundert hatte. Er war völlig anders als die anderen Sowjetführer. Er hatte nichts von deren bürokratischen Mentalität und war sehr flexibel. Dennoch war ein kein halbherziger Kommunist, wie einige seiner Gegner behaupteten. Im Gegenteil: Er war der Sache verschworen. Er glaubte, dass, wenn er den Menschen in der UdSSR mit einer florierenden Wirtschaft ein besseres Leben verschaffen könnte, und wenn zudem modernes Kriegsgerät für die Streitkräfte vorhanden wäre, er den Weltkommunismus schneller und effektiver erreichen könnte als mit Stalins Methoden. Für mich waren seine besten Eigenschaften: seine erfrischende Ungezwungenheit und seine unorthodoxe Vorgehensweise zu den Menschen und den Problemen. Ich war oft überrascht über seine direkte Haltung gegen- 41

42 über dem Beamtentum. Ich hörte, wie er seine Meinung zu anderen Mitgliedern des Politbüros, zu höheren KGB- Offizieren, sogar zu den allmächtigen Marschällen der Sowjetunion, und nicht zuletzt zu der Führung unserer Regierung aussprach ohne hochtrabende Worte. Er schätzte es, wenn sich andere ähnlich verhielten. Dass solch ein Mann die Herrschaft von Stalin überleben konnte, deutet auf seine bemerkenswerte Selbstbeherrschung und auf seine besondere Fähigkeit zu lügen hin. Dennoch war er seltsamerweise sehr naiv, was Menschen betrifft, trotz all seiner Arglistigkeit. Ein Fehler, der letztendlich zu seinem Verderben beitrug. Obwohl er wie ein Bauer aussah, war er überraschend gut gebildet und autodidaktisch. Er las viel und war sehr versiert in den großen russischen Schriftstellern wie Tolstoi und Tschechow, die er oftmals aus dem Gedächtnis zitieren konnte. Er scheute sich nicht davor Gottes Name in seinen öffentlichen Reden einzubeziehen, obwohl er wusste, dass dies die orthodoxen Christen entsetzen würde. Seine ermunternden Prognosen, seine einfache informelle Art und Weise in der Öffentlichkeit, und seine angeborene Scharfsinnigkeit motivierten das sowjetische Volk. Er war möglicherweise einer der beliebtesten Sowjetführer. Er hasste den Parteiapparat und den KGB und korrigierte deren Ansichten, manchmal auch die der Marschälle der Sowjetunion, ohne dabei viel Respekt zu zeigen. Indem er diese drei Säulen des Sowjetstaates 42

43 gleichzeitig entfremdete, führte er seinen eigenen Untergang herbei. Im Februar 1956, zwei Jahre nach unserem Gespräch in den Privaträumen der Burg Hradčany, hielt Chruschtschow seine berüchtigte Geheimrede vor dem XX. Parteitag der KPdSU, bei welcher er die Verbrechen der Stalin- Ära offenbarte. Seine Politik der Entstalinisierung hatte zwei Ziele: erstens, die effizientere Verbreitung des Kommunismus, so wie er es uns in Prag zu Verstehen gegeben hatte; zweitens, die Eliminierung seiner Rivalen und die Festigung seiner eigenen Macht in der Partei. Er wusste, dass der NKWD (welcher später der KGB wurde) als ein Instrument des stalinistischen Terrors in der Allgemeinheit verabscheut wurde. Er nutzte die Entstalinisierung, um die Kontrolle über die Staatssicherheit zu erlangen, und um seine Rivalen mit dem Vorwurf des Stalinismus zu diskreditieren. Der Widerstand, die sogenannte Anti- Partei-Gruppe, wurde in den achtzehn Monaten vor dem XX. Parteitag verfolgt. Chruschtschow setzte sich hierbei als unangefochtener Führer durch. Er erlangte die Macht und die Unabhängigkeit des KGB wurde stark eingeschränkt. Für diesen Erfolg benötigte Chruschtschow die fortwährende Unterstützung der Streitkräfte. Seine Geheimrede wurde in der tschechoslowakischen Partei verbreitet und unmittelbar danach entfachte sich eine starke Kritik gegen unsere eignen Stalinisten. Der Fokus der Feindseligkeiten richtete sich gegen den verhassten Alexej Čepička, der damalige Verteidigungs- 43

44 minister, der vormals der Justizminister während der Säuberungen war. Čepička war mit Sicherheit einer der bösartigsten Gestalten, die jemals in einem totalitären Regime die Macht erlangten. Er verdankte seine Position teilweise aufgrund der Heirat mit der Tochter des verstorbenen Präsidenten Gottwald und teilweise aufgrund seines strengen Gehorsams und seiner kriecherischen Unterwürfigkeit vor Stalin und unseren sowjetischen Beratern im Land, allen voran die Rotarmisten und der NKWD. Anfangs agierte er als Kurier zwischen Gottwald und Stalin. Er war oft bei den Sitzungen des sowjetischen Politbüros anwesend, um deren Entscheidungen über die Säuberungen in der Tschechoslowakei an seinen Schwiegervater zu übermitteln. Als Justizminister führte er sie aus. Tatsächlich verrichtete er die schmutzigste Arbeit in dieser Periode. Als Verteidigungsminister stand er vollkommen unter dem Einfluss des damaligen Chefberaters der Sowjets, General Gusew, den unnachgiebigsten Stalinisten von allen sowjetischen Generälen, die ich kennenlernte. In der Armee schaffte Čepička keine Disziplin, dafür jedoch Terror. Er betrachtete den kleinsten Fehlschlag als vorsätzliche Sabotage. Den Missetäter ließ er als imperialistischen Agenten verhaften, manchmal ließ er ihn auch erschießen. Er zwang das sowjetische Militärrecht rigoros auf, obwohl er wusste, dass es für unsere Armee ungewohnt und ungeeignet war. 44

45 Sein Privatleben war das Luxuriöseste von allen unter unseren Kommunistenführern. Sein Größenwahn war am groteskesten. Als Verteidigungsminister umgab er sich mit einem Überfluss an Prunk, dass selbst Stalin absurd gefunden hätte. Wenn er zum Beispiel die Truppen inspizierte oder Manöver beobachtete, wurde er in seinem Fahrzeug von zwei Obersten begleitet, deren Auftrag es war, wann immer sie anhielten, mit einem großen roten Teppich herauszuspringen und diesen auszulegen, damit Čepička darüber gehen konnte. Der strenge Gesichtsausdruck der Soldaten beim Vorbeimarsch verunsicherte Čepička. Deshalb befahl er allen kommandierenden Offizieren, dass ihre Truppen lächeln sollten, wenn sie an ihm vorbeimarschieren. Bei dem Versuch ihre Gewehre in Position zu halten und dabei zu lächeln sahen die Soldaten aus als hätten sie Bauchschmerzen. Außerhalb des Dienstes waren seine Freizeitbeschäftigungen genauso grotesk, wenn auch weniger bösartig. Er genoss es durch Wald zu spazieren, wobei er auch auf die Jagd ging oder Pilze sammelte. Bei solchen Gelegenheiten begleiteten ihn wieder zwei Oberste, die für ihn einen bequemen Stuhl trugen. Wann immer er seinen Spaziergang unterbrach, war es ihre Pflicht den Stuhl in einer geeigneten Position aufzustellen, damit er sich setzen und ausruhen konnte. Er hatte ein riesiges Privatvermögen mit mehreren Millionen Dollars, für die er niemals Rechenschaft ablegen musste. Dadurch konnte nicht nur er selbst im prunkvollen Luxus mit Villen, 45

46 Autos, und Juwelen leben, sondern auch seine Freunde. Seine Frau zum Beispiel besaß siebzehn Nerzmantel. Er war der Einzige im Politbüro mit solch einem Lebensstandard. Außerdem stahl er hohe Geldbeträge von Regierungskonten. Im Jahre 1952 gab es Gespräche über eine Untersuchung. Čepička geriet in Panik und versuchte fluchtartig tausende Kronen in der Toilette herunterzuspülen. Er war so unfähig, dass er alle Abwasserleitungen verstopfte und ein Klempner diese freimachen musste. Auf seinen Reisen durch das Land wurde er von uniformierten Huren begleitet, die Sozialarbeiterinnen genannt wurden, um seinen sehr großen Appetit zu befriedigen. Dieser würdelose Luxus hatte eine dunkle und kriminelle Seite, die nur in einem Regime wie unserem überdauern konnte. Er verfolgte jede attraktive Frau, die er antraf. Und wenn sie sich weigerte mit ihm ins Bett zu gehen, dann bedrohte er sie mit dem Gefängnis eine Drohung, von der die unglücklichen Frauen wussten, dass er sie ohne Skrupel umsetzen würde. Als Justizminister konnte er Menschen nach eigenem Ermessen ohne Gerichtsverhandlung dauerhaft ins Gefängnis bringen, was er auch tat. Als ich in das Verteidigungsministerium versetzt wurde, hatte ich einen Adjutanten, dessen Verlobte das Pech hatte die Aufmerksamkeit von Čepička zu erregen. Vor der Wahl gestellt ins Gefängnis zu gehen oder ihren Verlobten zu betrügen sprang sie aus einem oberen Fenster 46

47 und brachte sich selbst um. Die Partei hat den Zwischenfall selbstverständlich totgeschwiegen. Als Gottwald starb, versuchte Čepička sein Nachfolger als Erster Sekretär zu werden, währenddessen er gleichzeitig Verteidigungsminister bleiben wollte. Die übrigen Mitglieder im Politbüro hassten ihn jedoch fast genauso wie es die Armee tat. Und so wählten sie Novotný aus. Als Nachwirkung von Chruschtschows Geheimrede wurde Čepičkas Position angefochten. Und im März 1956 eröffnete ich das Feuer in einer Rede bei einer Tagung des ZK. Novotný bemerkte die Unruhe in der Partei und erklärte, dass jeder aus diesem Plenum sprechen könnte. Es machte jedoch klar, dass weder er noch die restliche Führung die Absicht hatten die Entstalinisierung zu fördern. Sie hofften, dass sie die Risse übertünchen könnten. Diejenigen von uns, die 1954 auserwählt wurden, waren empört. Und ich wusste von unserem vorhergehenden Treffen auf der Burg Hradčany, dass Chruschtschow sie damit nicht durchkommen lassen würde. Obwohl ich nie zuvor eine große Rede vor dem ZK hielt, schien dies der Moment zu sein meine Freunde und ich sind uns da einig wo ich meinen ersten Beitrag leisten konnte. Als mir erlaubt wurde zu sprechen, stand ich auf und begann meine Brandrede, obwohl meine Knie zitterten. Warum, Genossen, begann ich, scheint es so als wäre die Partei unfähig der Wahrheit zu begegnen? Warum gestehen wir uns nicht ein, dass ein Personenkult sogar in unserer eigenen Partei existiert? Der offenkundigste Ver- 47

48 treter ist, ich pausierte, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, der Verteidigungsminister, Alexej Čepička. Totenstille herrschte im ZK. Čepička lief weiß an und die anderen Mitglieder des Politbüros schauten sich unruhig und fragend einander an. Sie fragten sich, wer hinter diesem Vorwurf steckt. Sie konnten nicht glauben, dass jemand Unbedeutendes wie ich es ohne die Rückendeckung von der Führung wagen würde, so etwas zu tun. Ich hätte es auch nicht getan, wenn ich nicht so naiv gewesen wäre. In ihren verängstigten Gesichtern war ersichtlich, dass sie dachten, dass ich dazu bestimmt wurde eine Säuberung des großen Stalinisten einzuleiten. Und sie fürchteten um ihre eigene Position. Ich hatte mich warmgeredet. Obwohl ich weder Čepičkas Hurerei und Bedrohungen gegen die Frauen noch seine Geldmachenschaften erwähnte, führte ich eine Reihe von anderen Beispielen seines Größenwahns auf. Als ich mich setzte, applaudierte keiner. Die Stille hielt weiter an und es sah so aus, als hätte ich mich selbst gerichtet und nicht Čepička. Sogar meine Freunde schienen die Nerven zu verlieren. Dann, als ich die Hoffnung bereits aufgab, bestätigte ein anderes Mitglied des ZK, ein Oberst der Luftwaffe, meine Anschuldigungen und ergänzte weitere Bespiele für das korrupte Verhalten von Čepička. Kein anderer schloss sich an. Wir hatten jedoch einen Teilsieg errungen, da Novotný die Sitzung um eine Woche vertagte. 48

49 Ein paar Tage später wurde ich von Čepička in das Schwimmbad des Politbüros eingeladen, damit er mit mir Rücksprache halten kann. Es befand sich in einem großen Gebäude in einer Vorstadt von Prag. Zudem enthielt es einen Massagesalon, eine Sauna, und ein prachtvolles Restaurant nur für Mitglieder des Politbüros. Ich wusste, dass Čepička auch Frauen mit in die Räumlichkeiten nahm. Offensichtlich waren sie jedoch nicht dort. Er spendierte mir ein hervorragendes Mittagessen mit Champagne und Brandy, währenddessen er mich dazu überreden wollte meine genannten Anschuldigungen zurückzunehmen. Vor allem versuchte er seine Unterwürfigkeit für das Sowjetsystem zu begründen. Er sagte, dass sowjetische Experiment sei für uns alle anwendbar. Ich wusste schon längst, dass eine Beilegung unmöglich war. Außerdem wurde es nun eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod für uns beide. Wenn ich klein beigegeben hätte, dann hätte dies meinen Untergang bedeutet. Mein Verbündeter, der Luftwaffen-Oberst, war genauso unnachgiebig. Als das ZK wieder zusammentraf, wurden unsere Anschuldigungen sogar durch unseren Vorsitzenden des Ministerrates, Viliam Široký, bekräftigt. Er beschuldigte Čepička die Angehörigen des Ministerrates mit dem Vorwurf der Sabotage bedroht zu haben. Zdeněk Fierlinger, ehemaliger Anführer der Sozialdemokraten und vorhe- 49

50 riger Botschafter in Moskau, sprach sich auch gegen den Verteidigungsminister aus: Genosse Čepička, sprach er zu uns in einem scharfen Tonfall, ist der geistige Schöpfer des brutalsten Militärrechts in der Welt. Niemand erwähnte Čepičkas unübertroffenes Schwarzbuch als Justizminister. Er wurde dennoch zum Rücktritt gezwungen und das ZK versetzte ihn auf den weniger mächtigen Posten des Chefs des Patentamts. Die Partei war nicht in Eile die Entstalinisierung noch weiter voranzutreiben und die Säuberungen noch näher zu untersuchen. Čepička war ein nützlicher Sündenbock. Meine Denunziation ermöglichte es ihnen ihn fertig zu machen, um so die sonst erforderliche Opferung von höheren Parteikadern zu vermeiden. Auf Druck von Chruschtschow bildete Novotný letztendlich ein Untersuchungskomitee, um die Säuberungswellen zu untersuchen. Jedoch ging dies nur äußerst langsam voran. Trotz des zunehmenden Drucks von Chruschtschow im Jahre 1963, blieb die vollständige Rehabilitierung der meisten Opfer aus, bis Dubček 1968 an die Macht kam. Als Belohnung für meine Rede, welche sich so vorteilhaft für die Partei erwies, wurde ich zum Stabschef von Čepičkas Nachfolger, General Bohumír Lomský, ernannt. Die Partei hatte dennoch eine Weile Schwierigkeiten bei ihren Bemühungen die Entstalinisierung zu vermeiden. Ungefähr ein Viertel in den Bezirksverwaltungen im gesamten Land, insbesondere diejenigen, die die Intellek- 50

51 tuellen und die Streitkräfte repräsentierten, schlugen einen Beschluss vor, um einen Sonderparteitag einzufordern, bei dem die Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU thematisiert werden sollten. Die Zusammensetzung unseres ZK betrachteten sie als das größte Hindernis für den Wandel. Sie wollten bei dem eingeforderten Parteitag bezwecken, dass die Mitglieder ausgetauscht werden. Die Partei reagierte letztendlich mit einer Kombination aus Bedrohungen und hinterlistigen Manövern und sie organisierte eine Scheinkonferenz, um diese Entwicklung zu behindern. Nicht ein Funktionär wurde als Stalinist bezeichnet. Bevor ich im Mai 1956 meinen Dienst im Verteidigungsministerium antrat, hatte ich eine Besprechung mit Novotný. Ich weiß Sie sind eher ein Politiker als ein Soldat, sprach er zu mir, aber seien Sie nicht besorgt über ihren neuen Dienstposten. Wir sind uns einig, dass General Lomský ein fähiger Kommandeur ist. Er ist aber ganz gewiss kein Politiker. Ihr Auftrag wird es sein sicherzustellen, dass seine Entscheidungen und Empfehlungen im Einklang mit der Parteilinie sind. Schließlich ist Lomský nicht einmal ein Mitglied des ZK, wie Sie es sind. Und so werden Sie in einer starken Position sein. Bohumír Lomský hatte einen erstklassigen Ruf als Soldat. Er war Svobodas Stabschef an der Ostfront und von vielen wurde angenommen, dass sein fähiger Generalstab das tschechoslowakische Korps vor folgenschweren 51

52 Konsequenzen durch Svobodas Fehlgriffe bewahrte. Tatsächlich hatte Lomský für eine Zeit lang die Führung des Korps übernommen. Er war sehr beliebt in der Armee und er war keineswegs so naiv, wie Novotný andeutete. Zu mir war er ein umgänglicher und freundlicher Vorgesetzter. Der neue Dienstposten trug jedoch enorme Verantwortung mit sich. Sämtliche Vorschläge von Lomský an das Politbüro, dem sowjetischen Generalstab, und an das Verteidigungskomitee des ZK gingen durch meine Hände. Ich hatte sie zu prüfen, ob sie mit den Anweisungen der Sowjets und mit den Parteirichtlinien übereinstimmen. Auf der anderen Seite hatte ich alle Instruktionen der Partei und der sowjetischen Behörden, die an den Minister gingen, auszuwerten, um ihn bei deren Umsetzung zu beraten. Ich führte fünf Abteilungen, von denen die sogenannte Spezialabteilung die Geheimste war. Sie kontrollierte sämtlichen Schriftverkehr zwischen dem Minister, der Sowjetarmee und der höchsten Parteihierarchie. Sie prüfte außerdem auch die strategischen Pläne. Die anderen Abteilungen, die mir unterstellt waren, befassten sich mit Gesetzgebung, Rechtsangelegenheiten, Aspekten der militärischen Disziplin, der Übermittlung der Ministerbefehle an die Armee, und mit der Unterhaltung und Gastfreundschaft so etwas wie die Bereitstellung der Villen für den Besuch von Marschällen der Sowjetunion oder anderen hochrangigen Gästen. Ich hatte zwei beson- 52

53 dere Adjutanten: der eine schrieb die Reden für Lomský; der andere diente als sein Adjutant im Gefechtsdienst. Meine bedeutendste Pflicht war wohl der Dienst als Protokollant und Gehilfe für die nominelle Funktion des Ministers als Sekretär des Verteidigungskomitees des ZK. In Wirklichkeit war ich der eigentliche Sekretär. Ich bereitete alle Dokumente für das Komitee vor, übermittelte dessen Entscheidungen an die zuständigen Ministerien, und fasste deren Stellungnahmen für Novotný zusammen. Ich verbrachte fünf unangenehme Tage mit der Übernahme der Aufgaben meines Vorgängers, einem jähzornigen stalinistischen General und vormals Politoffizier. In den Stunden seiner Abreise fragte mich einer aus meinem Stab, ob ich die versteckten Tresore gesehen hätte. Ich bemerkte einen Tresor in einer Nische, von dem mein Vorgänger behauptete, er hätte die Kombination nicht nur Čepička wüsste sie, sagte er mir. Nun zeigten mir die Genossen aus dem Stab dreizehn weitere, die ich nicht gesehen hatte. Sie erzählten mir, dass sie streng geheimes Material enthielten. Mit der Genehmigung von Lomský ließ ich sie alle vom militärischen Nachrichtendienst aufbrechen. Das, was ich in diesen Tresoren fand, entsetzte mich. Sie enthielten einen umfassenden Bericht über die Involvierung von Čepička bei den Säuberungen, als er noch Justizminister und Sekretär des staatlichen Komitees für Kirchenfragen war. Es gab hunderte Seiten über die 53

54 Todeszellen, Unschuldserklärungen und Anfragen für die Umwandlung in Todesurteilen. Jeder Eintrag enthielt die Bemerkung Exekutieren, gezeichnet von Čepička. Es gab auch Nachrichtendienstberichte über die Hinrichtung von Priestern und Katholiken. Zudem waren Listen über Opfer enthalten, die vom Nachrichtendienst vorbereitet und vom Politbüro genehmigt wurden. Sie enthielten mehrere hundert Namen. Es waren keine Details über die Anschuldigungen oder über den Auslöser vorhanden nur die Überschrift: Feinde der Partei, die isoliert werden müssen. Gott alleine weiß, wie viele Ermordungen und falsche Gefängnisurteile diese Berichte verzeichneten. Unmittelbar danach brachte ich einen Auszug zu Lomský. Er war zu eingeschüchtert, um sich in diese Angelegenheit einzumischen. Ich will nichts von diesen Dokumenten wissen., entgegnete er mir, Wenn Sie handeln wollen, dann gehen Sie besser zum Ersten Sekretär. Novotný war nicht im Geringsten überrascht über das, was ich ihm vorzeigte. Meinen Vorschlag, dass Čepička verhaftet und vor Gericht gestellt werden soll, lehnte er entschieden ab. Seit dem XX. Parteitag der KPdSU haben wir haben bereits genug Ärger damit die Vergangenheit zu erklären., sagte er mir, Wenn ich Čepička vor Gericht stellen würde, dann würde das Ganze damit nicht enden. Das Volk würde die Partei beschuldigen und anfangen zu 54

55 fragen, wer sonst noch verantwortlich ist. Gehen Sie zurück in Ihr Büro und vergessen Sie, was Sie gesehen haben! Somit entstanden in mir die ersten Zweifel, was das kommunistische System betrifft. Innerhalb von zwanzig Minuten war ich in meinem Büro zurück. Der KGB war bereits zusammen mit Offizieren des Abwehrdienstes der tschechoslowakischen Volksarmee und einem hochrangigen Mitglied des Zentralkomitees vor Ort. Letzterer informierte mich, dass Novotný die Beseitigung der Dokumente angeordnet hatte. Er schaffte sie allesamt fort und Novotný sprach niemals wieder über sie. Viele Jahre später gestand die Partei jedoch ein, dass eintausend und sechshundert Tschechen bei den Säuberungen zu Tode verurteilt wurden. Dies ist definitiv eine Untertreibung, vor allem wenn man berücksichtigt, dass diese Zahl nicht die große Anzahl an Personen beinhaltet, die ohne Verhandlung hingerichtet wurden. Ebenso umfasst sie nicht die bürgerlichen Elemente, die während und nach dem kommunistischen Februarumsturz von 1948 liquidiert wurden. 55

56 3 Probleme mit den Satellitenstaaten Während die Auswirkungen von Chruschtschows Geheimrede in der Tschechoslowakei nur einige Verunsicherungen hervorgerufen hatten, entstanden in den anderen Satellitenstaaten nahezu katastrophale Zustände, insbesondere in Polen und Ungarn. Im Juni 1956 gab es in Poznań einen Streik in der Industrie gegen die geringen Löhne, gegen den niedrigen Lebensstandard, und gegen schlechte Betriebsleitung. Die polnische Regierung setzte törichterweise die Streitkräfte ein, um ihn zu unterdrücken, was eine Welle der Sympathie für die Streikenden im gesamten Land zur Folge hatte. Das Politbüro in Polen verlor kurz darauf die Kontrolle über die Situation und die Initiative ging zu den Streikenden über. Die Angelegenheit entwickelte sich zu einem umfassenden und lautstarken Angriff gegen die zentralisierte Wirtschaft, gegen die Präsenz der Sowjetarmee auf polnischem Boden, und gegen die lähmenden Effekte der wirtschaftlichen Vereinbarungen, die dem Land durch die Sowjetunion aufgezwungen wurden. Die Parteikomitees auf Bezirksebene legten Beschlüsse vor, die die Führung kritisierten, und sie verlangten sogar eine Begründung, weshalb der sowjetische Marschall Rokossowski als ihr Verteidigungsminister eingesetzt wurde. Schließlich mussten in Polen sowohl ZK als auch Politbüro mit der gleichen weitverbreiteten Kritik umgehen 56

57 wie bei uns. Sie wurden beschuldigt, dass sie bei der Entstalinisierung gescheitert sind, und dass sie mit den Russen zusammenarbeiten, um die Vergangenheit zu vertuschen. Diese Entwicklungen entstanden zu einem äußerst schlechten Zeitpunkt für die Polnische Vereinige Arbeiterpartei (PVAP). Der Erste Sekretär, Edward Ochab, wurde erst drei Monate zuvor ernannt, nachdem sein stalinistischer Vorgänger verstarb. Er hatte nichts von dessen Können und Entschlossenheit. Schon bald verlor er die Kontrolle über den Parteiapparat. In seiner Verzweiflung bat er um Unterstützung von der alten Anti- Partei-Gruppe, die in den frühen 1950ern verfolgt wurde, vor allem von Władysław Gomułka, der für einige Jahre unter Hausarrest stand, und von Marian Spychalski, der im Gefängnis war. Diese beiden Männer wurden eingesetzt, noch bevor das ZK ihre Vorschläge erarbeitete, um die Krise zu lösen. Da Gomułka ein sehr progressiver und liberaler Kommunist war zumindest für die damalige Zeit waren die sowjetischen Führer besorgt darüber, dass er perspektivisch Einfluss gewinnt und an der Debatte innerhalb der polnischen Partei teilnimmt. Die Sowjets schlossen die polnischen Grenzen und befahlen ihren Truppen in Richtung Warschau vorzurücken. Chruschtschow und Molotow flogen dorthin, um an einer Tagung des ZK teilzunehmen, und um Ochab gegen die Liberalen zu unterstützen. Chruschtschow hatte jedoch kaum ein Wort 57

58 gesprochen, da wurde er schon herausgefordert. Er wies den Kritiker an sich vorzustellen. Gomułka, Erster Sekretär der PVAP., war die Antwort. Zu seinem Nachteil reiste Chruschtschow zu spät an. Kurz bevor Chruschtschow landete, wurde Gomułka auf den Posten von Ochab gewählt. Unmittelbar darauf wurde er von Chruschtschow zu einer Besprechung eingeladen. Chruschtschow hoffte, dass er das Aufkommen von weiteren Liberalen im Politbüro und in anderen Organen der Regierung vermeiden könnte. Gomułka beharrte auf seinen Standpunkt. Polen, erklärte er, ist ein sozialistisches Land und wird es auch bleiben. Wir folgen einfach unseren eigenen Weg und behandeln unsere Stalinisten so, wie ihr es mit euren getan habt. Wie die Partei dieses Land führt geht nur uns etwas an. Ich weiß, dass die Sowjetarmee gerade auf die Hauptstadt vorrückt. Ich warne Sie aber, Genosse. Wenn Sie die Truppen nicht in ihre Kasernen zurückbeordern, können Sie ihrem Politbüro ausrichten, dass es hier in Polen einen Bürgerkrieg geben wird. Außerdem wird dann das gesamte polnische Volk gegen die Sowjetunion sein. Kurz darauf ging ein detaillierter Bericht über dieses Treffen durch meine Hände. Chruschtschow dürfte bereits geahnt haben, dass ihm eine Konfrontation mit Ungarn bevorsteht. Er wollte einen ähnlichen Konflikt wie mit Polen vermeiden. Chruschtschow duldete Gomułkas Eigenwille und setzte sich 58

59 gegen Molotow durch, der die Sowjetarmee einmarschieren lassen wollte. Er wusste natürlich nur allzu gut, dass, seitdem Polen anders als Ungarn keine Grenze mehr zu dem Westen hat, bei jedweder ernsthaften Auseinandersetzung mit der UdSSR die Sowjetarmee als entscheidende Kraft gefordert war. Die Sowjets setzten Gomułka weiterhin unter Druck. Zunächst war es ihm jedoch möglich seinen eigenen Weg zu gehen. Er reorganisierte den Parteiapparat, ersetzte Rokossowski durch Spychalski als Verteidigungsminister und als Mitglied des Politbüros, und erreichte den Abzug aller sowjetischen Kommandeure aus der Polnischen Volksarmee. Für eine Weile gewann er sogar weiterhin die Unterstützung für seine anti-sowjetischen Reden. In den nächsten drei Jahren realisierte er jedoch, dass Polen zu fest in der sozialistischen Staatengemeinschaft verankert war, um irgendwelche fundamentalen Veränderungen in der Partei und im Regierungssystem zu ermöglichen. Als er selbst für das Scheitern der Reformen kritisiert wurde, hatte er vollkommen desillusioniert zugesichert die Entwicklung in Richtung Liberalismus umzukehren, um seine eigene Macht zu erhalten. Er wurde ein folgsamer Stalinist. Die Russen unternahmen alles, um ihn von seinen liberalen Unterstützern zu entfremden auch durch verdeckte Maßnahmen. Bei einer dieser Maßnahmen wurden die Tschechen involviert. Sie nutzten den KGB- Agenten und ehemaligen Sozialdemokraten, Zdeněk 59

60 Fierlinger, den ich schon im Zusammenhang mit Čepička erwähnte, um den Vorsitzenden des Ministerrates, Józef Cyrankiewicz, ebenfalls ein ehemaliger Sozialdemokrat, zu berichten, dass die polnischen Sozialdemokraten den Sturz von Gomułka und die Übernahme der Partei planten. Fierlinger erstellte eine fiktive Liste von Personen, die in dem Komplott involviert sind unterstützt wurde er selbstverständlich vom KGB. Unabhängig davon, ob Gomułka erfolgreich getäuscht wurde sein Kurswechsel auf die sowjetische Linie war eindeutig. Die KPTsch unternahm alles Mögliche, um unser Land von den Ereignissen in Polen fernzuhalten, vor allem seitdem sie wusste, dass viele Parteikader und der Großteil der Intellektuellen mit Gomułkas anfänglichen Reformen sympathisierten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Ereignisse im Oktober 1956 die größte Bedrohung für die sowjetische Herrschaft in Osteuropa. Ungarn war bereits seit einigen Monaten in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, was in einer landesweiten Konterrevolution gegen die sowjetische Vorherrschaft gipfelte. Auslöser war das brutale Regime von Diktator Mátyás Rákosi. Er war ein slawophiler Anhänger der Sowjets und der repressivste Stalinist von allen Satellitenstaaten. Die Reaktion des ungarischen Volkes auf Chruschtschows Geheimrede und Liberalisierungsprogramm war dementsprechend gewalttätig. Alle Gesellschaftsschichten der Bevölkerung waren einig im Hass gegen die sowjetischen Herrscher 60

61 und deren Handlanger wie Rákosi und dessen berüchtigter Nachrichtendienst der ÁVH. Der Kreml reagierte als Erstes auf den öffentlichen Druck und veranlasste den Rücktritt von Rákosi im Juli. Jedoch wurde er nur von einem anderen Stalinisten ersetzt. Der Druck stieg weiter bis zum Oktober. Die Ungarn organisierten ihren Widerstand effektiver als die Polen oder die Tschechen. Schon früh bildeten sie die sogenannten Petőfi-Clubs benannt nach einem ihrer Volkshelden die ein Forum wurden, um den XX. Parteitag der KPdSU und sogar die Gültigkeit des Marxismus zu debattieren. Die Parteidisziplin begann schon bald zu zerbröckeln und das ZK wurde mit Forderungen für fundamentale Veränderungen überflutet, was die Ideologie, die Organisation und die Wirtschaft betrifft. Als die Partei gegen alle die Stirn bieten wollte, verlagerte sich die Debatte auf die Straßen und Massendemonstrationen entstanden. Am 23. Oktober brach die Gewalt aus. Gegen neun Uhr gab es mehrere hunderttausend Demonstranten auf den Straßen von Budapest. Vor dem Gebäude des Rundfunksenders eröffnete der ÁVH das Feuer auf die Menge. Die Menschenmengen drehten durch. Sie griffen die ÁVH- Mitarbeiter an und entwaffneten sie. Das Politbüro entsandte die Ungarische Volksarmee, um den Aufstand zu zerschlagen. Die Soldaten schlossen sich jedoch den Demonstranten an und gaben ihnen sogar Waffen. Nachdem die sowjetische Garnison Verluste erlitt und Aus- 61

62 rüstung verlor, wurde sie gezwungen Budapest vorerst aufzugeben. Die Wut des Volkes richtete sich insbesondere gegen den ÁVH. Dessen Mitarbeiter wurden gejagt und beschossen. In einem verzweifelten Versuch ernannte die Partei Imre Nagy am 24. Oktober zum Vorsitzenden des Ministerrates, um den Aufstand zu beenden. Unglücklicherweise begann er einen entscheidenden Fehler, indem er die Abspaltung Ungarns von der Warschauer Vertragsorganisation (WVO, auch Warschauer Vertrag / Pakt genannt) verkündete. Schon seit dem Beginn der Unruhen beobachteten die sowjetischen Führer die Situation ganz genau und bereiteten sich auf eine militärische Intervention vor. Auf ihre Anweisung hatten die Tschechen bereits Ungarisch sprechende StB-Offiziere und Parteikader in Ungarn infiltriert, um einen Versuch zu unternehmen die zersplitterte Partei der Ungarn und den ÁVH zu sammeln. Auf militärischer Ebene alarmierten wir unsere Truppen an der Grenze zu Ungarn und unsere Reservisten wurden für den Fall einer Intervention der NATO einberufen. Wir verschärften außerdem die Überwachung der Ungarisch sprechenden Minderheit an der Grenze. Ich erinnere mich gut daran, dass der sowjetische Chefberater des Verteidigungsministers, General Bojkow, zu keiner Zeit daran gezweifelt hatte, dass seine Regierung die Konterrevolution zerschlagen würde. Die Sowjetarmee ließ ihn nicht im Stich. In den frühen Stunden des 04. Novembers fielen ihre Panzer und Sol- 62

63 daten wieder in Budapest ein. Sie fegten über das ganze Land hinweg und überwältigten den furchtlosen, jedoch hoffnungslosen, Widerstand der Ungarn. Der KGB verschleppte Nagy und erschoss ihn anschließend. János Kádár erhielt die Macht und wurde ein verlängerter Arm der Sowjets. Er war ein Opfer von Rákosis Verfolgungen und wurde vom ÁVH brutal gefoltert. Viel Zeit hatte er nicht seit seiner Freilassung aus dem Gefängnis. Er war jedoch glaubwürdig genug, um die Sympathie einiger Ungarn und westlicher Beobachter zu gewinnen. Am Anfang des Jahres hatte er noch mit Nagy kollaboriert. Im Verlauf der Revolte wechselte er jedoch zu den Russen und kehrte mit ihnen nach Budapest zurück. Der Ungarische Volksaufstand führte zu einer bedeutenden Änderung beim Gelöbnis der Armeen in den Satellitenstaaten: Den Soldaten wurde befohlen, statt dem Volk zu dienen, nun schlichtweg dem Sozialismus zu dienen. Am 03. November, am Tag bevor die Sowjetarmee in Ungarn einmarschierte, sprach Chruschtschow persönlich oder telefonisch zu allen Führern der kommunistischen Länder, um deren Unterstützung für sein militärisches Vorhaben anzufragen. Selbstverständlich billigten es alle osteuropäischen Führer. Vier Jahre später erzählte mir Chruschtschow, dass Mao Tse-tung sogar noch weiter ging und ihn vor einem Scheitern der Sowjetarmee beim Zerschlagen der Konterrevolution warnte: Die Arbeiterklasse und die kommunistische Bewegung 63

64 würde Ihnen das niemals verzeihen. Erst nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis realisierte Chruschtschow, dass Mao schon damals bereits Vorwände suchte, um der Sowjetunion vorzuwerfen, dass sie im Sinne der friedlichen Koexistenz mit dem Westen zu zögerlich war die ungarische Partei zu unterstützen, und dass ohne Maos Eingreifen die Konterrevolution erfolgreich gewesen wäre. Dies steht im scharfen Kontrast zu der Haltung der Chinesen, die sie zwölf Jahre später bei der der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei vertraten. Diese wurde von den Chinesen verurteilt. Unsere eigenen Stalinisten wie Bruno Köhler waren eifrig dabei die Ursache der Konterrevolution der Liberalisierungspolitik von Chruschtschow anzulasten und nutzten diese Situation, um die Entstalinisierung in der Tschechoslowakei zu beschränken. Sie waren natürlich begeisterte Unterstützer der Intervention der Sowjetarmee. Das sowjetische Politbüro führte dennoch ihre eigene Untersuchung zu den Ereignissen in Ungarn durch. Ihre Schlussfolgerungen waren unterschiedlich. Die offizielle Linie der kommunistischen Propaganda verurteilte die Konterrevolution als Einmischung der Imperialisten. Das Politbüro teilte diese besänftigende Erklärung jedoch nicht. Stattdessen gab sie dem Nihilismus der sowjetischen Politik und den Fehlgriffen von Rákosis Regime die Schuld. Sie stellten fest, dass sie falsch lagen bei der Annahme, dass Rákosis slawophiles Festhalten am sowjetischen Model aus Ungarn einen 64

65 effektiven kommunistischen Staat gemacht hat. In ihrem Bericht stellten sie heraus, dass aufgrund der in Ungarn verbreiteten bürgerlichen Elemente (und deren Leiden, hätten sie ergänzen können) das ungarische Volk an die Symbole ihrer eigenen Nation festhält. Der Bericht kritisierte den KGB für dessen Fehleinschätzung, was die Stärke der konterrevolutionären Kräfte betrifft. Das Zentralkomitee der KPdSU wurde ebenfalls dafür gerügt, dass sie zu bereitwillig die optimistischen Bewertungen der Partei der Ungarischen Werktätigen (PdUW, Vorgänger der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei) akzeptierte. Chruschtschow verteilte diesen Bericht an das tschechoslowakische Politbüro. Und ich nehme an, dass die Politbüros der anderen Satellitenstaaten ihn ebenfalls erhalten haben. Zu seiner eigenen Sicherheit musste er sicherstellen, dass alle Organisationseinheiten des Sowjetapparates die Unzufriedenheit teilten. In diesem Zuge wurden uns bedeutende Zugeständnisse für unsere nationalen Befindlichkeiten eingeräumt. Zum Beispiel wurde uns erlaubt, dass wir unsere eigene Nationalhymne spielen dürfen, und dass wir unsere Nationalflagge hissen dürfen, ohne dass die sowjetische Flagge daneben gehisst werden muss. Von größerer Bedeutung war jedoch, dass Chruschtschow in dem Bericht herausstellte, dass die osteuropäischen Führer erfahren genug sind, um ihre eigenen Angelegenheiten zu klären, auch ohne die Unterstützung der sowjetischen Bera- 65

66 ter. Viele von ihnen wurden in die Armee bis auf Divisionsebene zurückbeordert. Die Chefberater in den Ministerien und der Generalsstab blieben erhalten. Bedauerlicherweise erhielten die Genossen im Generalstab den neuen Titel Repräsentanten der Warschauer Vertragsorganisation, wodurch sie noch mehr direkte Befugnisse erhielten im Vergleich zu vorher. Zumindest waren sie nicht mehr so zahlreich und sichtbar. Die jüngeren Offiziere und Kommissare in der Tschechoslowakischen Volksarmee dachten irrtümlicherweise, dass dieser Bericht ein Ergebnis des XX. Parteitages ist, und dass sie hierdurch die Erlaubnis haben aus der Armee eine wahrhaftig nationale Streitmacht zu formen. Im Gegensatz zu den erfahrenen Kommandeuren, von denen die meisten im tschechoslowakischen Korps an der Ostfront dienten, wurden die Politoffiziere nach 1948 rekrutiert ihr Durchschnittsalter betrug vierunddreißig. Sie neigten zu liberalen Ansichten. Sie schlugen demokratische Reformen, eine Abwandlung der sowjetischen Uniform, die Wiedereinführung des alten Brauchtums der tschechischen Armee, und die allgemeine Entsowjetisierung der Dienste vor. Diese Vorschläge wurden zunächst im tschechoslowakischen und dann im sowjetischen Politbüro eingereicht. Das Schreiben wurde damit beantwortet, indem General Gusew, Stellvertretender Stabschef der WVO, mit einer fünfzehnköpfigen Inspektion nach Prag entsandt wurde, um die Liberalen aus der Armee auszusondern. 66

67 Wie ich bereits erwähnte, war Gusew der Chefberater von Čepička im Verteidigungsministerium und er war ein kompromissloser Betonkommunist. Mein Minister befahl mir ihn am Flughafen zu treffen, da er selbst durch eine Sitzung des Politbüros verhindert war. Als Gusew aus dem Flugzeug ausstieg, ging ich auf dem Rollfeld vorwärts und streckte meine Hand aus, um ihn zu grüßen. Ich grüße Sie, Genosse General., begann ich mit meinem schmeichlerischsten Lächeln, Mein Minister, General Lomský, beauftragte mich seine Hochachtung auszusprechen. Zudem entschuldigt er sich, dass er hier nicht persönlich erscheinen kann. Er ist durch eine Sitzung unseres Politbüros gebunden. Gusew ignorierte mich und starrte mich zornig an. Er brüllte: Erstens: Sie haben die Grundstellung einzunehmen, wenn Sie zu mir sprechen! Zweitens: Richten Sie Ihrem Minister aus: Wenn ich nach Prag komme, hat er hier zu sein, um mich zu treffen. Drittens: Ihre Schirmmütze ist eine Schande und Ihr Anzug ist schlampig. Er ging zu seinem Fahrzeug. Seine Inspektion durchleuchtete unsere gesamte militärische Führungsstruktur von der Regimentsführung und der Politischen Hauptverwaltung bis zum Minister und Stabschef. Über einhundert Politoffiziere und Kommandeure wurden abberufen. Dies war jedoch noch nicht das Ende der Liberalisierungsversuche in der tschechoslowakischen Volksarmee. 67

68 Sechs Jahre später, nach dem XXII. Parteitag der KPdSU, der die Entstalinisierung bekräftigte, blühte wieder ein naiver Versuch auf, um den Militärdienst zu demokratisieren, und um eine Art kollektive Führung zu etablieren, wodurch die Macht der pro-sowjetischen Kommandeure eingeschränkt werden sollte. So wie auch bei vorherigen Liberalisierungsversuchen begann es bei der Politschule des Militärs. Die Reaktion des Sowjets erfolgte unmittelbar. Dieses Mal entsandten sie General Jepischew, Chef der Politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Streitkräfte und ehemals Stellvertreter des Vorsitzenden des KGB. Jepischew war ein unheimlicher Mann. Tatsächlich war er der furchteinflößendste Russe, dem ich jemals begegnet bin. Er ähnelte einem Charakter des Schriftstellers Dostojewski ein unberechenbarer Demagoge. Er sah einem niemals direkt in die Augen und sprach immer sehr schnell, als ob er von seiner Zeit beim KGB wusste, dass sein Büro verwanzt sein würde. Er lächelte niemals. Wir fürchteten seine Inspektionen, aus denen immer viele Entlassungen hervorgingen. Obwohl er formell ein Diplomat in diesen Tagen war, sah er immer so aus und verhielt sich so, als wäre er noch der stellvertretende Vorsitzende des KGB. Er war unfähig einen Kompromiss einzugehen. Wenn du auch nur geringfügig von der Linie abgewichen bist, warst du erledigt. Nicht einmal mein Minister, Lomský, traute sich ihm zu widersetzen. 68

69 4 Amerikanisch-sowjetische Beziehungen Nachdem Chruschtschow seinen Einfluss auf die kommunistischen Parteien der Satellitenstaaten gefestigt hatte, versuchte er seine Politik der friedlichen Koexistenz mit dem Westen zu implementieren und berief ein Gipfeltreffen ein. Die KPdSU vertrat die etwas unrealistische Ansicht, dass sich das Gleichgewicht der Macht zwischen Ost und West zu ihren Gunsten gewandt hat. Sie glaubten, dass der Westen bereit sei Zugeständnisse zu machen. Chruschtschow war zuversichtlich, dass er durch seine Politik der Entstalinisierung erheblich an Sympathie im Westen gewonnen hatte. Er war sich überhaupt nicht bewusst, dass die brutale Unterdrückung der Ungarn Ernüchterung und Ablehnung im freien Europa und in Amerika verursacht hatte, wenngleich diese Länder nichts unternahmen, um Chruschtschow aufzuhalten. Deren Empörung hielt nur neun Tage und schon bald dachten die Menschen im Westen wieder nur noch an ihre eigenen Probleme. Nach seinem Treffen mit Eisenhower in Camp David kam Chruschtschow mit großen Zweifeln zurück, was den Präsidenten betrifft, obwohl er zunächst durch die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit auf sein Angebot der friedlichen Koexistenz ermutigt war. Er ahnte, dass Eisenhower kein Gespür für Außenpolitik hatte, und dass sich dieser nur auf kompromisslose Berater wie Fos- 69

70 ter Dulles verließ. Da die Öffentlichkeit vom Kalten Krieg erschöpft war, glaubte er eine Zeit lang, dass die dennoch Druck auf die britische und amerikanische Regierung ausüben würde, wodurch diese gezwungen wäre Zugeständnisse bei dem Gipfeltreffen in Paris zu machen. Die Sowjetunion begann damit die wichtigsten Industriefirmen des Westens zu umwerben, um die Situation auszunutzen. Sie unterstrichen deren wirtschaftlichen Vorteile durch die friedliche Koexistenz. Die Auszeichnung des amerikanischen Millionärs Cyrus Eaton mit dem Internationalen Leninpreis für die Festigung des Friedens zwischen den Völkern sollte in diesem Kontext bewertet werden. Als das Gipfeltreffen näher rückte, mehrten sich Chruschtschows Zweifel über Eisenhower und Dulles, was zudem durch den Druck der KPdSU und der Armee verstärkt wurde. Er erwartete einen kühlen Empfang für seine neue Politik und befürchtete eine persönliche Abfuhr von Eisenhower bei dem Gipfeltreffen. Er suchte bereits nach Ausflüchten, um es zu verschieben. Der Aufklärungsflug von Gary Power mit der U-2 am 01. Mai 1960 kam ihm sehr gelegen. Die U-2-Aufklärungsflüge waren der WVO selbstverständlich schon lange vor dem Vorfall bekannt. Ich hörte erstmals von ihnen im Herbst 1957, als ich zum Stabschef des Verteidigungsministers ernannt wurde. Zur damaligen Zeit konnten die Russen die Überflüge nicht verhindern, da das Spionageflugzeug zu hoch flog und somit 70

71 für ihre Flugabwehrraketen und Kampfflugzeuge außer Reichweite war. Chruschtschow gab bekannt, dass die Sowjetarmee die U-2 abgeschossen hatte. Das Schicksal des Piloten verschwieg er ganz bewusst. Die Amerikaner wiesen die Anschuldigung zurück, dass sie in Spionageflügen beteiligt seien. Chruschtschow berichtete dann, dass der Pilot in sowjetischer Gefangenschaft war, und er beschuldigte die Amerikaner der Lüge. Das Gipfeltreffen wurde durch Eisenhower praktisch beendet, als er schließlich den Aufklärungsflug zugab und Amerikas Recht darauf mit voller Überzeugung verteidigte. Chruschtschow bauschte seine Empörung künstlich auf und war somit in der Lage in der Lage das Gipfeltreffen zu beenden, dessen Ausgang er fürchtete. Zudem konnte er die Amerikaner bloßstellen. Das Ausmaß der Zufriedenheit auf sowjetischer Seite bemerkte ich zwei Wochen später bei einem Mittagessen mit Wladimir Tereschkin, dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Außenkomitees des ZK der KPdSU. Sowjet-Marschall Moskalenko, der Oberkommandierende der sowjetischen Raketentruppen nahm ebenfalls daran teil. Sie hatten offengelegt, dass die KPdSU vor dem U-2-Vorfall keine Alternative zur Teilnahme an dem Gipfeltreffen sah, da sie es sich nicht leisten konnte die Westeuropäer zu verstimmen. Sie planten jedoch es zu unterminieren, indem sie Vorschläge zur Abrüstung machen wollten, welche die Amerikaner unmöglich annehmen konnten. Und somit nahmen die 71

72 Amerikaner die Rolle des unnachgiebigen Verlierers ein. Moskalenko stellte deutlich heraus, dass die Sowjetarmee absolut gegen die friedliche Koexistenz war. Er ergänzte, dass die Armee Chruschtschows Truppenreduzierung nicht vergeben hatte. Hiervon waren ungefähr drei Millionen Soldaten in den vorhergehenden fünf Jahren betroffen. Er sagte, dass der U-2-Vorfall die Notwendigkeit einer sowjetischen Supermacht unterstreicht. Das ZK wertete dies dennoch als vorteilhaft für die Politik der friedlichen Koexistenz, da nun der mangelnde Fortschritt den Kalten Kriegern in Amerika angelastet wurde. Im Herbst 1959 erfolgte der Erste von mehreren Besuchen von Fidel Castros Bruder, Raúl. Er lud sich selbst ein. Er trat uns als Führer einer Delegation von Fidel entgegen, welche die Möglichkeiten einer militärischen Unterstützung für Kuba durch die Tschechoslowakei besprechen sollte. Der Besuch war daher im Zuständigkeitsbereich unseres Verteidigungsministeriums. Ich wurde mit dessen Organisation beauftragt. Wir hatten bereits die Anfrage der Kubaner mit den Russen thematisiert, die anfänglich weitestgehend gleichgültig reagierten, da sie zu dieser Zeit noch Fidel ein wenig misstrauisch gegenüberstanden. Ihr Interesse war dennoch groß genug, um den Tschechoslowaken ihren üblichen Strohmännern die Durchführung von informativen Gesprächen anzuordnen. Sie luden Raúl nicht in die UdSSR ein. Tatsächlich hatte er dies auch nicht angefragt. 72

73 Raúl war kein offizieller Gast des Politbüros. Deshalb erhielt er nur einen typischen Drittweltler-Empfang. Außer Lomský war kein anderer Minister am Flughafen, um ihn zu begrüßen. Wir schafften es dennoch eine angemessene Menge aufzubringen, indem wir alle Zivilangestellten unseres Ministeriums dorthin befahlen und Schulkinder aufstellten, die Parolen riefen, welche die kubanisch-tschechoslowakische Freundschaft anpriesen. Zudem schwenkten sie die jeweiligen Nationalflaggen und übergaben Blumensträuße und Nelken an die Delegation. Das Flugzeug rollte zur Zugangstreppe vor uns. Die Tür öffnete sich und Lomský erstarrte neben mir, als eine zerlumpte Gruppe, die den Figuren aus der Oper Carmen ähnelte, die Stufen hinabging und über das Rollfeld zu der Ehrengarde watschelte, wo wir warteten. Alle Delegierten trugen den Dienstgrad Major auf ihren Schultern, was ein wenig Verwirrung verursachte. Wir identifizierten Raúl Castro. Er war ein magerer junger Mann im Alter von achtundzwanzig und hatte hohle Wangen, langes schwarzes Haar, und einen dünnen schwarzen Schnurrbart, der aussah, als wäre er aufgeklebt. Er spiegelte einen interessanten Kontrast gegenüber den adrett gekleideten Lomský wider, als die beiden die Ehrenparade abnahmen. Wir begleiteten die Kubaner zur Regierungsvilla in der Roosevelt-Straße, wo wir sie unterbrachten. Um sechs Uhr abends arrangierten wir dort auch ein informelles 73

74 Abendessen mit ihnen, nachdem sie ihren Schlaf nachgeholt hatten. Es gab einen peinlichen Moment, als wir feststellten, dass es für die vierzehn Kubaner nur zwölf Betten in der Villa gab. Dank ihres Guerilla-Kampfgeistes waren sie darüber jedoch nicht im Geringsten bestürzt. Raúl teilte ein Bett mit seinem Berater und zwei andere nahmen es mit Humor. Später stellten wir fest, dass sie alle mit ihren Stiefeln in der sauberen Bettwäsche schliefen. Von Beginn an nahm ich mich Raúl an und schon bald sprachen wir uns beim Vornamen an. Er stellte mich all seinen Genossen vor. Ich erinnere mich vor allem an Guillermo García, dem ersten Bauern, der sich den Fidelistas anschloss, und an Luis Más Martin, dem Leitenden der Propagandaabteilung der Sozialistischen Volkspartei Kubas (später wieder als KPK umbenannt), der ins Sierra- Maestre-Gebirge als Parteifunktionär entsandt wurde. Letzterer teilte uns schon bald seine Einschätzung über die Castro-Brüder mit. Er erzählte uns, dass Fidel kein Parteimitglied war, und dass er in den Bergen lieber Mao als Lenin las. Raúl hingegen war ein langjähriger Kommunist und zudem nun ein Mitglied des Politbüros. Zu dieser Zeit versuchte die Partei Fidel durch Raúl zu beeinflussen. Más schlussfolgerte: Ich persönlich denke, dass Fidel ein Anarchist ist. Seine Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten wird aber von der Partei gerne gesehen, vor allem wenn die Amerikaner weiterhin so töricht reagieren. 74

75 Es könnte gefährlich sein ein Land zu provozieren, das so mächtig und nahe ist wie die Vereinigten Staaten., kommentierte ich seine Äußerung. Más grinste. Nun nicht mehr. Nach unserer Bewertung ist es nun zu spät für die Amerikaner, um ihre Truppen gegen uns einzusetzen. Die Villa wurde selbstverständlich abgehört. Über die Wanzen erfuhren wir jedoch nichts Neues, da unsere Gäste ohnehin bereit waren uns alles zu erzählen. Die Kubaner waren aufrichtig und offen in allen Diskussionen mit uns. Raúl würde sogar vor unserem Übersetzer einem StB-Mitarbeiter mit Fidel telefonieren, um Instruktionen zu erfragen. Lomský erschien für ein Abendessen in der Villa. Er kam pünktlich um achtzehn Uhr in seiner besten Uniform. Die Hälfte der Zeit verbrachten wir jedoch damit die Kubaner aus den Betten zu kriegen. Wir brachten sie zum Vorzimmer ein Teil von ihnen hatten nicht einmal ihre Jacken an. Die Kubaner ignorierten die Namensschilder ignorierten und setzten sich einfach irgendwo hin. Das erzürnte Lomský, der ein Verfechter von Protokoll und Disziplin war. Als wir sie darauf hinwiesen, dass sie falsch saßen, lächelten sie charmant und tauschten die Namensschilder aus. Dabei verschoben wir Lomskýs Stuhl, sodass er neben Raúl sitzen konnte. Der Minister kochte vor Wut. Und seine Laune wurde nicht besser, als einer unserer Gäste seine formelle Willkommensrede unterbrach. 75

76 Nach dem Essen gingen Lomský, Raúl und ich in einen kleinen Raum, um Kaffee und Brandy zu trinken, und um ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Lomský kam direkt auf den Punkt. Warum wollt ihr Panzer und schwere Waffen?, fragte er Raúl. Um Lateinamerika zu befreien., kam prompt die Antwort, Und um den USA eine böse Überraschung zu bereiten, wenn sie Kuba angreifen. Unsere Revolution ist so wichtig für Lateinamerika, so wie es die russische Revolution für Europa war. In diesem Moment kam Raúls Berater uneingeladen hinzu. Er nickte uns dreien freundlich zu und fing an durch den Raum zu schlendern, um die Gemälde an den Wänden zu bestaunen. Lomský beobachtete ihn mit Argusaugen und lief rot an. Der Kubaner blieb vor einem beeindruckenden Gemälde von einer nackten Frau stehen. Nachdem er es einen Moment lang betrachtete, seufzte er genießerisch. Was für ein schöner und straffer Körper und solch volle Brüste. Er zeichnete sie mit seinen Fingern nach. Und, ähm, ihre Augen scheinen dir überall zu folgen. Raúl dachte nicht mehr an die Panzer und ging rüber, um ebenfalls zu schauen. Und so begannen die beiden jungen Männer mit einer lebhaften Diskussion über die Anatomie. Als Raúl zu unserem Tisch zurückkam, kam auch sein Berater dazu und setzte sich auf die Armlehne von Raúls Stuhl. Lomský deutete Raúl verzweifelt an, 76

77 dass er ihn loswerden sollte. Raúl ignorierte ihn jedoch und fragte nach einer weiteren Runde. Er goss seinem Genossen Brandy ein, der uns allen mit diesem kubanischen Gewinnerlächeln begegnete. In der darauffolgenden Unterhaltung wurde uns klar, dass Raúl keine Vorstellungen davon hatte, was er eigentlich benötigte. Er reagierte gelassen, als Lomský anregte, dass sie mit der Sowjetunion besser beraten wären als mit der Tschechoslowakei. Schließlich brachte Lomský ihn zu einer Stellungnahme. Raúl wollte sich offiziell an die tschechoslowakische Regierung wenden, um die Unterstützung für den Aufbau der kubanischen Verteidigungsanlagen anzufragen. Auf dieser Grundlage veranlasste Lomský Beratungsgespräche zwischen den Kubanern und unseren Experten, um deren genauen Anforderungen zu bestimmen. Er machte Raúl deutlich, dass sein Bruder die tschechischen Techniker und Berater akzeptieren müsse, damit seine Truppen in unserer Ausrüstung ausgebildet werden können. Raúls Besuch dauerte sechs Wochen. Seine Delegation verminderte sich jedoch schon bald nach den medizinischen Untersuchungen, auf die er bestanden hatte. Vier von ihnen hatten Geschlechtskrankheiten. Entgegen ihres Wunsches schickte Raúl sie umgehend wieder nachhause. Hier ging es um Politik nicht um Kururlaub. Raúl selbst ließ sich gerne ablenken. Jede Nacht ging ich mit ihm in einen Nachtclub, wo wir etwas tranken und mit den Hostessen bis in die frühen Morgenstunden tanzten. 77

78 Das Problem war, dass ich um acht Uhr morgens im Dienst sein musste, währenddessen Raúl den ganzen Vormittag ausschlief. Ich besorgte ihm also einige blonde Frauen, die mit ihm schliefen. Er war besessen von Blondinen. Ich musste sie unauffällig in die Villa bringen, da ich die Angelegenheit eigentlich dem Politbüro hätte offiziell melden müssen. Und der StB hätte einige Sozialarbeiterinnen des Nachrichtendienstes für ihn bereitgestellt. An diesen Tagen mochte ich Raúl besonders. Und wir verbrachten Stunden damit, um über jedes denkbare Thema zu sprechen von der politischen Elite bis zu den Frauen war alles dabei. Damals war er sehr aufrichtig und naiv. Er hatte kein Verständnis für Parteiintrigen. Hingegen bei seinen Rotlichtgewohnheiten war er kein Narr. Hinter seinen dunklen Augen, die mich an eine Katze erinnerten, war ein klarer Verstand. Ich gab ihn den Spitznamen kleiner Fuchs. Er lernte sehr schnell dazu. Er verstand zum Beispiel schon bald die Prinzipien der militärischen Führung, nachdem wir es ihm erklärten. Als Söhne eines reichen Vaters genossen die beiden Castro-Brüder eine privilegierte Schulausbildung. Raúl erzählte mir, dass er mit achtzehn von einem katholischen Seminar davonlief. Er war sehr amüsiert über die anfängliche Reaktion der Amerikaner und Russen über Fidels Aufstieg zur Macht. Der amerikanische Botschafter in Havanna, sagte er, teilte seiner Regierung mit, dass sie keine Angst vor 78

79 Fidel haben müssen. Als Sohn eines Kapitalisten würde er keine Gefahr für die kapitalistische Regierung darstellen. Der sowjetische Botschafter teilte seiner Regierung mit, dass man uns nicht vertrauen könnte, da wir wohlhabende Söhne der Bourgeoisie sind. Deshalb begegnet uns die UdSSR mit Gleichgültigkeit. Nachdem Lomský der Rüstungsanfrage zustimmte, arbeitete die kubanische Delegation durchaus mühevoll. An den Ruhetagen nahmen wir jedoch Raúl mit zum Jagen und Fischen in den tiefen Wäldern des Brdy-Berglands in der Nähe von Prag. Diese Gebiete waren exklusiv für die Mitglieder des Politbüros und für deren Gäste. Kein feudaler Landbesitzer genoss jemals solch eine gutgeschützte Privatsphäre wie sie es hatten. Die Bäume im Umkreis von dreißig bis vierzig Kilometer hatten rote und weiße Schilder, auf denen Unbefugten Zutritt verboten stand. Die Staatssicherheit patrouillierte im Wald mit Wachhunden. Sie beobachteten uns sogar, während wir angelten. Andere Minister begleiteten uns wie auch Lomský. Raúl nutzte die Gelegenheit, um sie zu relevanten und manchmal unangenehmen Fragen wie unserer Beziehung zur Sowjetunion zu befragen. Seine Fragen wurden schwieriger, nachdem er die UdSSR besuchte. Wir versuchten selbstverständlich ihn davon zu überzeugen, dass diese brüderliche Übereinkunft zwischen zwei Gleichrangigen erfolgte, und dass es nur folgerichtig war, dass wir dem voller Überzeugung zustimmten. 79

80 Haben die Sowjets vollen Zugriff auf eure militärischen Informationen?, erinnere ich mich, wie er mich dies fragte. Ja. Generäle und Offiziere der Sowjets sitzen sowohl im Innen- als auch im Verteidigungsministerium. Gemäß ihrer Anordnung haben sie dieselben Informationen wie unsere eigenen Minister. Ah, ja., grummelte Raúl, Und eure Offiziere sitzen dementsprechend auch in den Ministerien der UdSSR? Nein. Warum nicht? Vertrauen sie euch nicht?, fragte er. Unsere jungen Offiziere stellten ebenfalls immer dieselbe Frage. Es ist keine Frage des mangelnden Vertrauens. Die Sowjetunion ist die entscheidende Kraft im Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Und deshalb ist es nur in unserem Sinne, dass sie die Details über ihre militärische Stärke streng geheim halten. Raúl erwiderte nichts. Die Arbeitssitzungen mit der kubanischen Delegation machten einen guten Fortschritt und führten schließlich zu einem Treffen zwischen Raúl und Novotný, der zu dieser Zeit Staatsratsvorsitzender und gleichzeitig Erster Sekretär war. Das Treffen wurde für neun Uhr morgens in der Hradčany-Burg terminiert. Um diese Uhrzeit lag Raúl noch im Bett. Um Gottes Willen! Geh und mach ihn wach!, drängte ich seinen Berater. 80

81 Das habe ich bereits., antwortete er, Und ich bekam einen Stiefel an den Kopf geworfen. Es war bereits nach elf Uhr, als wir Raúl zur Burg brachten. Keiner verlor jedoch ein Wort über seine Verspätung. Novotný sicherte Raúl zu, dass wir ihm Waffen liefern würden. Zudem sagte er ihm entschieden: Dies erfolgt unter der Bedingung, dass die demokratische Revolution in Kuba in eine sozialistische Richtung einschlägt. Er verlangte außerdem die Zusicherungen, dass sich Fidel bereit erklärt der kommunistischen Partei beizutreten, und dass die KPK eine führende Rolle bei der Fortführung der Revolution einnehmen würde. Darüber hinaus warnte er Raúl abermals. Die Haltung Ihres Bruders zu China wird der Maßstab unserer Politik gegenüber Kuba sein. Er besänftigte die angespannte Stimmung, indem er Raúl einen neuen Sportwagen von Škoda überreichte. Die Chinesen hatten selbstverständlich die Gelegenheit nicht vernachlässigt, die Raúls Besuch anbot, auch wenn wir Raúl davor warnten, dass die Chinesen nicht in der Lage waren ihm Panzer und schwere Waffen zu liefern. Nach seiner Ankunft erhielt er eine Einladung zu einem Abendessen mit deren Botschafter. Raúl erzählte mir später, dass das Essen herrlich war. Die Chinesen setzten ihre Anstrengungen fort, um ihn zu umwerben. Jeden Tag kam eine Kopie der Zeitung Xinhua (der chinesischen Nachrichtenagentur) in spanischer Sprache in die Villa. 81

82 Zwischenzeitlich gewannen wir den Eindruck, dass unsere sowjetischen Verbündeten ihre Chance versäumten. Als ich mit ihrem Botschafter, Michael Simjanin, telefonierte und ihm vorschlug, dass sie mit Raúl sprechen sollten, antwortete er, dass das diplomatische Protokoll erfordere, dass die Kubaner den ersten Schritt machen. Diplomatisches Protokoll! Für die Kubaner ist das nicht von Bedeutung. Unmittelbar darauf kontaktierte ich General Alexander Kustschow, dem obersten Repräsentanten der Sowjetarmee in der Tschechoslowakei. Kustschow erkannte sofort die strategische Bedeutung von Kuba und telefonierte mit Sowjet-Marschall Andrei Gretschko, dem Oberkommandierenden der sowjetischen Landstreitkräfte. Gretschko war der Schwager von Chruschtschow. Er sprach mit ihm noch am selben Tag bei einem Abendessen. Am darauffolgenden Tag erhielt Raúl eine persönliche Einladung von Chruschtschow für einen Besuch in Moskau. Wie ich bereits erwähnte, war Fidel Castro zu dieser Zeit den Sowjets alles andere als wohlgesonnen. Er untersagte seinem Bruder Kontakte mit ihnen aufzunehmen, solange sich dieser in Prag aufhielt. Darüber hinaus hatte Fidel viele alte Parteikader in Kuba liquidieren lassen. Zudem ließ er einige Funktionäre verhaften, den Ersten Sekretär der Partei inbegriffen. Trotz dessen genehmigte er Raúls Reise nach Moskau. Raúl verbrachte eine Woche dort, wobei er drei Tage von Chruschtschow begleitet wurde. Er kehrte nach Prag 82

83 voll Bewunderung für ihn zurück. Ich verehre Chruschtschow., erzählte er mir. Jedoch war er voller Wut und Verachtung gegenüber den Sowjet-Marschällen. Kurz nach seinem Besuch erhielt Novotný Anweisungen von Chruschtschow alles Notwendige zu tun, um die militärischen Anforderungen von Kuba zu erfüllen, um unseren kommunistischen Einfluss in Havanna zu festigen. Zur gleichen Zeit zeichnete unser Innenminister mit den Kubanern eine Vereinbarung für eine nachrichtendienstliche Zusammenarbeit in Lateinamerika. Damals wollte Chruschtschow noch eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten vermeiden. Und er wollte nicht, dass die Sowjetunion direkt mit Kuba in der karibischen Revolution involviert ist. Deshalb agierten wir wieder als ihre Strohmänner wie zuvor. Wir entsandten eine ganze Serie von Delegationen nach Kuba inklusive Landwirtschaftsexperten, Techniker, Ärzte, und natürlich auch StB-Mitarbeiter, um Fidel zu unterstützen die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nur die eigentliche Ausbildung der kubanischen Streitkräfte verblieb von Beginn an in den Händen der sowjetischen Generäle und Berater. General Gusew, der unerbittliche Stalinist, der die Tschechoslowakische Volksarmee in den 1950ern terrorisierte, flog als Chefberater dorthin. Bei einem Tag am Strand erlag er jedoch einem Herzinfarkt beim Sonnenbaden und nur seine sterblichen Überreste kamen nach Russland zurück. Letztendlich wurden die 83

84 Funktionen aller tschechischen Berater von sowjetischen Experten übernommen. Auch wenn wir gute Freunde wurden, war ich ziemlich erleichtert, als Raúl seine Delegation nach Havanna zurückführte. Die sechs Wochen, in denen ich sie betreuen musste, hatten mich ausgelaugt. Bis 1965 traf ich Raúl, wann immer er nach Prag zurückkehrte. Mit der Zeit veränderte sich seine Person im Vergleich zu dem naiven und charmanten Jugendlichen, den ich am Anfang kennenlernte. Jedes Mal, wenn ich ihn antraf, schien er sich ein wenig zum Schlechteren verändert zu haben. Er wurde zunehmend arroganter und autoritärer bis sein Verhalten einem Sowjet-Marschall glich, die er sonst so verachtete. Er wurde scheinbar nur ein weiterer eingebildeter Bürokrat, ohne Sinn für Humor. Ich war nicht länger bemüht ihn anzutreffen. Sein Genosse Che Guevara war völlig anders voller Eifer und verächtlich gegenüber dem bürokratischen Staatskommunismus. Er besuchte die Tschechoslowakei als Handelsminister von Kuba. Mit seinem schwarzen Bart, seinem scharfen Blick, seiner Partisanenuniform, und mit seiner Pistole im Hüftholster sah er wie ein wahrer Revolutionär aus. Wir jungen Offiziere bewunderten auch die Art und Weise wie er seine eigenen Ansichten gegen jeden durchsetzte, wenn auch sehr überschwänglich. Er bestand darauf, dass Kuba jedes Recht dazu hat mit den Waffen, die wir ihnen gaben, eine gewaltvolle Revolution in Lateinamerika zu entfachen 84

85 eine Angelegenheit, welche die Sowjets aus taktischen Gründen entschieden ablehnten. Die sowjetischen und tschechoslowakischen Führer taten ihn als einen Anarchisten ab. Mir geht immer noch die Szene durch den Kopf, als unser eigener Handelsminister ihm vorschnell eine kubanische Zigarre anbot, die in Prag hergestellt wurde. Er war wütend. Wie ist das möglich?, brüllte er. Eine kubanische Zigarre, die in der Tschechoslowakei hergestellt wurde! Kubanische Zigarren werden in Kuba hergestellt, und zwar nur in Kuba. Und ihr habt nicht das Recht euer Etikett draufzumachen. Ihr seid genauso übel wie die schlimmsten Imperialisten. Das einzige Mitglied von Raúls Delegation, welches nach Prag zurückkehrte, war Guillermo García, der Landarbeiter. Im April 1961 erhielt ich einen Anruf vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, worin mir mitgeteilt wurde, dass ein verrückter Kubaner auf dem Flughafen gelandet ist, der angefragt hatte den Verteidigungsminister zu sehen. Niemand wusste, was er wollte. Ich eilte mit einem Übersetzer dorthin, um festzustellen, dass García ein Parr Angorakaninchen haben wollte. Allem Anschein nach hatte Fidel die seltsame Idee, dass Kuba mit Fleisch und Wolle der Angorakaninchen gut versorgt werden könnte. Mithilfe des Landwirtschaftsministeriums bekam ich schließlich ein Paar. García hatte jedoch eine Weile in Prag zu warten, bis er 85

86 sie mit nachhause nehmen konnte, da drei Tage später die Invasion in der Schweinebucht begann. Im Juni 1961 traf Chruschtschow in Wien Präsident Kennedy beim ersten Gipfeltreffen. Dieses Mal ging er ohne den Opportunismus dorthin, den er früher verspürte. Er hoffte schlichtweg, er könnte Kennedy und durch ihn die westliche Welt dazu bewegen eine weniger harte Gangart gegen die sozialistische Staatengemeinschaft einzulegen, um die möglichen Folgen des Kalten Krieges zu meiden, und um der Politik der friedlichen Koexistenz eine Chance zu geben. Er hoffte außerdem, einen gewissen Fortschritt bei der Abrüstung zu machen. Zur damaligen Zeit war die Sowjetunion beunruhigt über die Wiederbewaffnung der Westdeutschen. Darüber hinaus hoffte er, die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Westen zu verbessern, um Zugang zu Technologien und zum Handelswesen des Westens zu erhalten. Auf seinem Weg zurück nach Moskau unterrichtete er Novotný über das Ergebnis. Von Antonín hörte ich im Nachhinein, dass er Kennedy als einen intelligenten Mann beschrieb, mit dem es möglich sei eine Übereinkunft entlang den Richtlinien der friedlichen Koexistenz zu erarbeiten. Ihm war jedoch bewusst, dass es für Kennedy problematisch war die fast schon traditionelle Feindseligkeit seiner Landsleute gegenüber der Sowjetunion über Nacht zu ändern. Chruschtschow schlussfolgerte, dass die sozialistische Staatengemeinschaft bei ihren Angriffen gegen den Westen diskret vorgehen soll- 86

87 te, wobei die Kalten Krieger im Fokus standen. Wir müssen den Westen spalten und nicht vereinen, indem einfältige Angriffe gegen den Kapitalismus durchgeführt werden. Er fügte dem hinzu, dass er damit nicht die internationale kommunistische Bewegung einschränken wollte. Im Gegenteil: Eines der Hauptziele seiner Politik war es die Bedingungen für eine Weltrevolution zu verbessern. Als Vorsitzender des Ministerrates der Sowjetunion könnte ich Kennedy viele Dinge versprechen., erzählte er Novotný, Als Erster Sekretär der KPdSU und Führer der weltweiten kommunistischen Bewegung habe ich jedoch weiterhin freie Hand. Wie zu erwarten war, informierten die Russen die Satellitenstaaten weder über ihre Absicht, was die Installation von Interkontinentalraketen auf Kuba anbelangt, noch erklärten sie uns ihre Gründe, weshalb sie die Welt an die Schwelle eines Krieges brachten. Wir Tschechoslowaken bekamen davon etwas erst im Februar 1962 mit, als wir im militärischen Bereich unsere operativen Pläne für das Folgejahr vorbereiteten, um unser Vorgehen mit den anderen Streitkräften der WVO für den Ernstfall abzustimmen. Die Planung basierte auf Dokumente und Karten, die durch den Generalstab der WVO bereitgestellt wurden. Zudem enthielten sie Vorkehrungen sowohl für einen lokal begrenzten Krieg in Europa als auch für einen globalen Atomkrieg. Bis 1963 sah unsere Planung noch keinen konventionellen Krieg in Westeuropa vor. 87

88 Gemäß diesen Dokumenten wäre bei einem Ausbruch eines Atomkrieges mit den Vereinigten Staaten zunächst eine kleine Raketenserie gestartet worden, um die wichtigsten Städte in Amerika zu treffen, gefolgt von dem Hauptangriff. Die Dokumente enthielten hierfür keine Erklärung. General Otakar Rytíř, unser Stabschef, berichtete Novotný und unserem Militärkomitee, dass nach seiner Einschätzung die Raketen von Kuba aus gestartet würden. Wie allgemein bekannt ist, musste Chruschtschow im Oktober 1962 nachgeben und er ließ die Raketen abziehen. Die Krise erwies sich als die zweite ernsthafte Herausforderung für seine Führungsriege die Erste ergab sich aus den Ereignissen in Polen und Ungarn im Jahre Er wurde hauptsächlich von den Streitkräften, dem KGB, und von den Stalinisten in der Parteihierarchie kritisiert. Sie rumorten, dass Kennedy nur bluffen würde. Vor allem prangerten sie Chruschtschow dafür an, dass er durch seine massive Truppenreduzierung und durch sein Scheitern beim Aufbau einer schlagkräftigen Marine den Handlungsspielraum der Sowjets geschwächt hatte. Wenn die Amerikaner Drohungen aussprechen würden, sagten sie, dann könnte die Sowjetunion versichern, dass jeder Schlag gegen die Stützpunkte auf Kuba von einem sofortigen Gegenschlag auf Berlin gefolgt würde. Die Kritiker fragten sich zudem, wie es sein konnte, dass die Amerikaner die Raketen aufgeklärt hatten, noch bevor diese einsatzbereit waren. Der KGB musste diesen Fragen 88

89 nachgehen. Auch der Erste Sekretär musste sich diesen Fragen stellen. Schließlich erfolgte die Stationierung auf seinen direkten Befehl. Chruschtschow verteidigte sich in einer Geheimrede auf einer Tagung des ZK. Er stellte heraus, dass er ein bedeutendes strategisches Ziel erreicht hatte, da Kennedy zugestimmt hatte nicht in Kuba einzufallen. Somit war der Kommunismus auf der Insel gesichert. Kuba stand nun zur Verfügung, um die progressive Bewegung in Lateinamerika zu unterstützen, wenn erforderlich. Für diejenigen, die sagten, dass Kennedy bluffen würde, gab er zu bedenken, dass ein verwüstetes Mutterland ein zu hoher Preis wäre für solche Abenteuer. Er argumentierte damit, dass die Truppenreduzierung erforderlich war, um die sowjetische Wirtschaft zu stützen, von deren Stärke das Militär abhängig war. Der Lebensstandard der Bevölkerung wurde verbessert, die Unterstützung der Allgemeinheit für die Partei wurde gesteigert, und eine solide Grundlage für den Aufbau des Militärs wurde geschaffen. Es traf zu, dass die UdSSR eine starke Marine benötigte. Bisher musste jedoch der Wirtschaft Priorität eingeräumt werden. Erst jetzt könnte der Aufbau der Marine voranschreiten. Chruschtschows temperamentvolle Verteidigungsrede ließ seine Kritiker für den Moment verstummen. Die Angelegenheit mit Kuba schwächte jedoch seine Position nachhaltig. Ich fragte mich oft, weshalb er jemals versuchte diese Raketen in Kuba zu installieren. Ich halte 89

90 seine Erklärung für unglaubwürdig, dass er damit versuchte die Kubaner vor einem Angriff der Amerikaner zu schützen. Ich denke, er gab dem Druck der militärischen Führung nach, die dachten, dass die Raketen der UdSSR eine strategische Vormachtstellung geben würden. Ich glaube, er ließ sich davon überreden, dass ihre Existenz verborgen bleiben könnte bis sie vollständig einsatzbereit wären und er sie als Druckmittel einsetzen könnte, um die strategische Bedrohung durch die Amerikaner andernorts zu reduzieren. Dies spricht nicht gerade für die Intelligenz von Chruschtschow und der militärischen Führung, wenn sie dachten, dass sie damit durchkommen könnten. Das sowjetische Politbüro stellte unmittelbar danach ein Komitee auf, um zu untersuchen, wie die Amerikaner die Raketen so schnell aufklären konnten. Der Vorsitzende war Leonid Breschnew, ein Protegé von Chruschtschow. In der Tschechoslowakei und vermutlich auch in den anderen Satellitenstaaten überprüften der Nachrichtendienst und der militärische Abwehrdienst jeden innerhalb des Verteidigungsministeriums, der Zugang zu diesen Informationen hatte. Die Genossen von der Abwehr gingen sogar so weit, dass sie die Wandverkleidung im Büro und im Konferenzraum des Ministers herunterrissen, um nach versteckten Mikrofonen zu suchen. Die Überprüfung wurde noch im November fortgesetzt, bis die Nachricht über die Verhaftung des sowjetischen Obersts Oleg Penkowski verbreitet wurde. 90

91 Penkowski wurde zeitnah im Jahre 1963 für die Weitergabe von strategischen Informationen an den Westen exekutiert. Chruschtschow zog einen Vorteil aus der Tatsache, dass die undichte Stelle in der Armee war, wodurch er einige seiner schärfsten Kritiker im Militär diskreditieren konnte. Ein Marschall der Sowjetunion wurde sogar zum Generalmajor degradiert. Während der Kubakrise hielt Chruschtschow keine Rücksprache mit Fidel. In seiner Verteidigungsrede vor dem ZK räumte er ein, dass er Fidel eine Erklärung schuldete. Er rechtfertigte sein Vorgehen damit, dass Fidel nur Kuba verpflichtet sei er hingegen sei für die ganze Welt verantwortlich. Er entsandte Anastas Mikojan nach Havanna, um seine Rechtfertigung zu überbringen. Die entrüsteten Kubaner ließen Mikojan mehrere Tage für eine Unterredung mit Fidel warten. Während er in Kuba war, verstarb Mikojans Frau. Chruschtschow ließ ihn jedoch nicht nachhause zurückkehren, bis er seinen Auftrag erfüllt hatte. Als Mikojan endlich Fidel antraf, war dieser äußerst verärgert über Chruschtschows Vorgehen. Fidel sagte, dass eine persönliche Entschuldigung nicht ausreicht. Mikojan musste die Position der Sowjets vor dem kubanischen Volk erklären. Infolgedessen musste er turbulenten Sitzungen begegnen, bei denen er vom Plenum beleidigt und sogar mit verfaulten Früchten beworfen wurde. Als er Kuba verlassen hatte, brach er zusammen 91

92 und musste in ein Sanatorium eingewiesen werden, um sich zu erholen. Als Präsident Kennedy einige Monate später ermordet wurde, wurden alle Flaggen in der Tschechoslowakei auf Halbmast gesetzt. Dies war eine ungewöhnliche Ehrung für einen Anführer eines imperialistischen Landes. Aus verschiedenen Gründen ordnete das Politbüro es dennoch offiziell an. In Osteuropa betrachteten wir Kennedy als einen neuen Typus eines westlichen Staatsmannes, der im Gegensatz zu Eisenhower den Westen in eine neue Ära der friedlichen Koexistenz führen würde. Die Sowjets dachten sogar, es wäre nicht vermessen Kennedy als einen realistischen Politiker anzuerkennen. Zudem diente diese offizielle Ehrung dazu, um jeder spontanen, das heißt unerlaubten, Demonstration zuvorzukommen, die Sympathie für den ermordeten Präsidenten bekundet. Der StB und die Streitkräfte wurden dennoch alarmiert, um für jedweden Aufruhr bereit zu sein, der außer Kontrolle geraten könnte. Die Partei wusste nur allzu gut, dass Kennedy für die tschechoslowakische Bevölkerung eine Symbolfigur für Freiheit war, und dass sie auf seinen Tod mit aufrichtiger Trauer reagieren würden. 92

93 5 Das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis Die Unstimmigkeiten zwischen Sowjetrussland und dem kommunistischen China begannen, als Chruschtschow als Nachfolger von Stalin hervortrat und seine historische Rede vor dem XX. Parteitag der KPdSU hielt, wobei er Stalin verurteilte. Schon bald war Mao verstimmt durch den zunehmenden Einfluss des neuen Sowjetführers. Er war besonders darüber brüskiert, dass Chruschtschow es unterließ ihn vor der Einführung der entscheidenden Veränderungen mit der Entstalinisierung zu informieren. Zudem war er beunruhigt über die Auswirkungen von Chruschtschows neuer Politik auf die Einheit und den Kampfgeist des kommunistischen Blocks, von dem China so viel materielle und moralische Unterstützung erhielt. Die Chinesen missbilligten auch Chruschtschows Politik der friedlichen Koexistenz. Sie dachten, dies diene imperialistischen Interessen und sei ein Verrat an die progressive Bewegung in der Dritten Welt. Zudem beklagten sie, dass die Sowjetunion ihnen nicht ausreichend militärische und politische Unterstützung zukommen ließ, was solche Angelegenheiten wie Taiwan betrifft. Sie waren erbost, als Chruschtschow klugerweise eine frühere Vereinbarung zur Lieferung von nuklearen Waffen zurückzog. All diese Differenzen waren nur ein Nebenschauplatz des eigentlichen Problems: Die Führung der kommunis- 93

94 tischen Welt. Langfristig gesehen war es für solch zwei Großmächte unmöglich innerhalb der monolithischen Struktur des kommunistischen Systems in Harmonie zusammenzuarbeiten. Peking begann damit den Standpunkt zu vertreten, dass China eine Alternative der kommunistischen Lehre repräsentiert. Peking konkurrierte von nun an mit Moskau um die Führung der weltweiten kommunistischen Bewegung. Wir erahnten das kommende Zerwürfnis im Jahre 1958, nachdem General Lomský einen offiziellen Besuch nach Peking anführte, an dem Stabsoffiziere unserer Streitkräfte teilnahmen. Dies war Teil eines Austauschprogramms, welches 1956 durch die Sowjetunion initiiert wurde, um die Beziehungen der kommunistischen Länder zu festigen. Der Besuch diente dazu, um die Chinesen mit der Effizienz der sowjetischen Militärorganisation zu beeindrucken, um tschechische Waffen an die Chinesen zu verkaufen, und um die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) näher an die von den Sowjets geführte Staatengemeinschaft heranzuführen. Dies war der erste hohe Besuch in China mit einer Militärdelegation aus der Tschechoslowakei. Und wir legten großen Wert auf dessen Erfolg. Lomský besichtigte Fabriken, landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), sowie Einheiten der Armee, und war sehr beeindruckt von dem, was er sah. Die Ausbildung und Disziplin im chinesischen Militär waren außergewöhnlich, so wie auch ihr Verständnis 94

95 über die marxistischen Prinzipien. Unsere Delegation war über deren ideologische Begeisterung erstaunt, da dies bei unserer Armee weniger stark ausgeprägt war. Die Führung endete mit einer Unterredung mit Mao Tse-tung. Der Große Vorsitzende erwähnte die Sowjetunion nicht einmal. Er bekräftigte Chinas Verantwortung für die Entwicklung einer neuen Theorie zur praktischen Umsetzung des Kommunismus in Asien, wobei er die marxistischen Phrasen gekonnt anwandte. Es ist anti-marxistisch, ergänzte er mit Betonung, sich nur auf die Prinzipien auszuruhen, die von den großen marxistischen Führern dargelegt wurden. Nur mit dieser neuen Vorgehensweise wird China den Status einer Großmacht erreichen. Er schlussfolgerte aus seiner Feststellung, dass sich die anderen kommunistischen Länder schneller entwickeln würden, wenn sie ihr Recht einfordern würden ihren eigenen Weg zu gehen. Das einzige Mitglied der tschechoslowakischen Delegation, welches realisierte, dass Maos Philosophie eine Herausforderung für die Sowjetunion darstellte, war mein alter Freund und Weggefährte General Prchlík, der nun der Chef der Poltischen Hauptverwaltung im Verteidigungsministerium war. Auf ihren Weg nachhause hielt die Delegation in Moskau. In seiner Leichtsinnigkeit plauderte Lomský begeistert über alles, was er in China gesehen hatte, ohne zu berücksichtigen, dass seine Worte bei Sowjet-Marschall Rodion Malinowski und bei den anderen Sowjetgene- 95

96 rälen negativ ankamen. Marschall der Sowjetunion Iwan Konew, Oberkommandierender der WVO, unterbrach Lomskýs begeisterte Rede für Maos Kollektivierung und schnauzte ihn an: Meine Erfahrung sagt mir, dass man diesen asiatischen Fanatikern niemals vertrauen sollte. Nach seiner Rückkehr in Prag berichtete Lomský unserem Politbüro von seinem erfolgreichen Besuch. Er war sich nicht bewusst, dass er Moskau verstimmt hatte. Er erhielt die Zustimmung der Partei für den Aufbau eines Propagandaprogramms in den Streitkräften, um die chinesisch-tschechoslowakische Freundschaft zu fördern, und um die Leistungen von Mao Tse-tung anzupreisen. Nachdem er fünf große Reden über das Thema abhielt, bekam ich einen unerwarteten Besuch von General Korotkow, dem sowjetischen Berater des Stabschefs. Nach einem Glas Wodka fragte er mich unverblümt, ob Lomský pro-chinesisch war. Für einen Moment dachte ich, er hätte ein Glas zu viel genommen. Ich hatte noch nie zuvor den Ausdruck pro-chinesisch gehört. Bisher war die Frage immer, ob jemand pro- oder anti-russisch war. Man muss nur den Reden des Genossen Ministers zuhören, fuhr er fort, um sich seiner Sympathie für die Chinesen bewusst zu werden. Der Genosse Minister, erklärte ich beharrlich, hat nicht seine eigene Auffassung wiedergegeben. Er folgte nur der Parteilinie. Als er verstand, dass Lomský seine Instruktionen vom Politbüro erhielt, nachdem es Rücksprache mit Moskau 96

97 hielt, beruhigte er sich und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. Nachdem er ging, rief ich meinen Freund Prchlík an, um ihn davon zu berichten, dass Lomský von Korotkow verdächtigt wurde. Er lachte. Sei unbesorgt, Jan. Erst gestern fragte mich Korotkow, ob du pro-chinesisch bist. Bis April 1960 kamen die Differenzen zwischen Russland und China nicht an die Öffentlichkeit. Ab dann folgte eine ganze Serie von Artikeln aus Peking unter dem Titel Lang lebe der Leninismus. Sie befassten sich mit dem ideologischen Disput. Auf einem Parteitag der Rumänischen Arbeiterpartei im Juni nahm Chruschtschow die Chinesen in Angriff. Im November wurde die Konferenz der 81 kommunistischen und Arbeiterparteien von Chruschtschow ins Leben gerufen, um die Zustimmung für seine Politik der friedlichen Koexistenz zu gewinnen, und um Moskaus Vormachtstellung über die kommunistische Bewegung zu bekräftigen, die nun von China beansprucht wurde. Die Konferenz endete mit einer Presseerklärung zugunsten der Sowjetunion. Die zwei Seiten beschäftigten sich jedoch eigentlich mit der gewaltsamen Auseinandersetzung innerhalb der Konferenz, wobei sich die Chinesen weigerten parteieigene Unternehmungen zu unterlassen. Im Frühjahr 1961 gelangten die Russen über ihre nachrichtendienstlichen Quellen an Kopien von einem geheimen Schreiben, welches zwischen den chinesischen 97

98 Parteikadern verbreitet wurde und als Grundlage für deren Haltung diente. Hierin wurde die Sowjetunion für die Uneinigkeit in der kommunistischen Bewegung verurteilt. Zudem wurden die Russen bezichtigt, dass sie einen Angriff auf China planen. Bis dahin hatte die KPCh das Zerwürfnis ganz bewusst verharmlost. Dieses Schreiben markierte den Beginn einer internationalen Propagandakampagne, um die Kader über den Sachverhalt umfassend zu informieren. In dem Schreiben wurden die Probleme der chinesischen Wirtschaft dem Abzug der sowjetischen Berater im Jahre 1960 angelastet. Zudem wurden hierin die Sowjetführer beschuldigt, dass sie den Kommunismus aufgegeben haben, währenddessen sie fälschlicherweise behaupten die Avantgarde des Marxismus zu sein, obwohl sie eine bürgerliche Demokratie in der UdSSR etabliert haben. Die Bemühungen, um den Streit zwischen den beiden Parteien zu schlichten, endeten, als Chruschtschow im Oktober 1962 Albanien anprangerte und die Beziehungen mit Tirana einen Monat später abbrach. Die Unterstützung der Russen für Indien während dessen Grenzkonflikt mit China im Jahre 1962 und Chruschtschows Kapitulation vor Kennedy bei der Kubakrise bestätigten die Chinesen in ihrer Auffassung, dass die Sowjetunion jeden Preis zahlen würde für eine Übereinkunft mit den Vereinigten Staaten. Die Annäherung der Sowjets mit Jugoslawien, welches 1960 aus der kommunistischen Bewegung von Peking ausgeschlossen wurde, vergrößerte 98

99 den Riss. Im Verlauf des Jahres 1963 gab es weitere Versuche, um die beiden Mächte zusammenzubringen. Sie scheiterten jedoch alle. Die Chinesen wollten eine völlige Entzweiung vermeiden. Sie wollten innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung bleiben, um ein Veto gegen jedwede feindliche Aktion der Sowjets einlegen zu können. Darüber hinaus hofften sie die internen Streitigkeiten zu mehren, um die kommunistischen Parteien zu spalten, damit sie neue Akteure schaffen können, die unter ihrer eigenen Kontrolle stehen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, sahen sich die Russen dazu genötigt die Zusammenarbeit formell zu unterbrechen. Im Herbst 1963 und auch 1964 versuchte die Sowjetunion internationale Parteitagungen einzuberufen, um die Chinesen zu diskreditieren. Der Widerstand der rumänischen, italienischen, polnischen, und kubanischen Kommunisten durchkreuzten jedoch ihre Absicht. Ihr Scheitern war eine ernsthafte Blamage für die Russen, vor allem was das Durchsetzen ihres Willens gegenüber den brüderlichen Parteien betrifft. Tatsächlich hatten sich jedoch viele kommunistische Parteien weiterhin von der Auseinandersetzung distanziert. Einige von ihnen sympathisierten heimlich mit den Chinesen. Nur die Albaner vertraten aktiv die chinesische Seite, wobei die Nordkoreaner und die Nordvietnamesen oftmals auch der chinesischen Linie folgten. Sie erzählten uns im Vertrauen, dass sie keine Wahl hatten. Die Nordkoreaner 99

100 ergänzten, dass die Chinesen sie vernichten könnten, indem sie sie einfach mit Strohhüten ersticken. Chruschtschow hatte gute Gründe darüber besorgt zu sein, was seine Fähigkeit betrifft die Führung der kommunistischen Parteien im Westen und in der Dritten Welt in sowjetischer Hand zu behalten. Die Debatte über seine Taktiken in der Auseinandersetzung trug zu seinem Untergang bei. Bis zum chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis hatten die Chinesen einen Beobachterstatus in der WVO. Zudem konnten sie auf einen umfassenden militärischen und nachrichtendienstlichen Informationsaustausch mit uns zurückgreifen. Ab 1960 war jedoch ersichtlich, dass dies nicht fortgesetzt werden kann. Ich erinnere mich, dass in diesem Jahr bei der politischen Beratungssitzung der WVO Marschall Lin Pao der chinesische Repräsentant war. Als Chruschtschow eine Rede hielt, wobei er die internationale Situation, die Ziele und Erwartungen der friedlichen Koexistenz analysierte, wurde er mehrere Male von Lin Pao unterbrochen, der aufsprang, mit seiner Faust auf den Tisch schlug, und die Politik anprangerte. Es wurde offensichtlich, dass er bewusst provozierte manchmal schien er vollkommen verwirrt zu sein. Chruschtschow verlor schließlich seine Geduld. Die Teilnehmer, schnauzte er die chinesische Delegation an, wollen mehr hören als Beleidigungen! Wir würden gerne einige konstruktive Alternativen zur fried- 100

101 lichen Koexistenz hören, wenn sie welche anzubieten haben. Die sowjetischen Berater im wirtschaftlichen und technischen Bereich waren die Ersten, die China 1959 verließen. Die Letzten von insgesamt zwölftausend Militärexperten wurden Ende 1960 zurückbeordert. Im Jahr 1963 entsandten das tschechoslowakische Militär und der Aufklärungsdienst ihre ersten Agenten nach Peking. Bis dahin hatten wir dort nur Verbindungsoffiziere gestellt. Diese bedeutende Entwicklung stellte China auf eine Stufe mit unseren kapitalistischen Widersachern. Im Jahr 1961 erzählte mir Oberst Kislitsew, Stabschef der sowjetischen Berater in der Tschechoslowakei, dass die Armee der Ansicht war, dass Chruschtschow die sowjetischen Berater zu schnell aus China abzogen hatte. Kislitsew war der Auffassung, dass die Armeeangehörigen solange wie möglich verbleiben sollten, um der Partei verlässliche nachrichtendienstliche Informationen über die Absichten der Chinesen zur Verfügung zu stellen. Seine Argumentation wurde später in einer Analyse des ZK der KPdSU über die Situation in China gestützt. Wir erhielten die Analyse 1963, noch vor Chruschtschows Niedergang. Einige Monate später erfuhren wir von der Weiterführung dieser Analyse durch den sowjetischen Botschafter Tscherwonenko, der kurz zuvor von Prag nach Peking versetzt wurde. Er erzählte mir, dass die sowjetischen Militärberater in China im Jahre 1956 berichteten, dass 101

102 Mao mit den Ergebnissen des XX. Parteitages der KPdSU nicht einverstanden war, wodurch sich dessen Differenzen mit der sowjetischen Partei zwangsläufig mehrten. Es wäre besser, wenn die Russen diesen Ausgang akzeptiert und jede Anstrengung unternommen hätten, um die Fraktionen innerhalb der KPCh auszunutzen, erzählte er. Tscherwonenko war davon überzeugt, dass die Chinesen die Russen acht Jahre lang hinhielten, um militärische und wirtschaftliche Unterstützung aus der UdSSR abzuschöpfen. Eine politische Lösung ist nicht möglich., schlussfolgerte er. Wir sollten die Angelegenheit durch einen militärischen Einsatz klären. Dennoch hatte der Kreml weiterhin die Hoffnung, dass er durch politische und wirtschaftliche Mittel die Kontrolle über China erlangt, noch bevor das Treffen zwischen Kossygin und Tschu En-Lai im Jahre 1965 stattfand. Das Politbüro nahm an, dass die Chinesen für eine Versöhnung bereit wären, wenn Chruschtschow abberufen wird, die persönlichen Feindschaften zwischen der sowjetischen und chinesischen Führung beseitigt werden, die Sowjets dem Einfluss der Chinesen in der Dritten Welt erfolgreich begegnen, und wenn China von der weltweiten Bewegung des Kommunismus isoliert wird. Zudem hatte China immer noch wirtschaftliche Schwierigkeiten. Und der Streit zwischen Liu Schao-Tschi und Mao deutete auf politische Unruhen innerhalb der Partei hin. Letztendlich führten Chinas Bemühungen für eine Über- 102

103 einkunft mit den Vereinigten Staaten zu nichts. Die Sowjetführer hofften, dass der Vietnamkrieg ihnen eine letzte Möglichkeit bieten würde, um China in ihr sozialistisches Lager zurückzuführen. Es war absehbar, dass China der größte Unterstützer von Hanoi mit hoher Wahrscheinlichkeit dabei war in einem zunehmenden Konflikt mit den Vereinigten Staaten zu geraten. In solch einer Situation würden sie die Unterstützung der anderen kommunistischen Länder benötigen, vor allem von der Sowjetunion. Im Jahre 1965 machte Kossygin auf seinen Weg nach Hanoi einen Zwischenhalt in Peking, um mit Tschu En- Lai zu sprechen. Gemäß dem Bericht über das Treffen, den wir erhielten, war dies reine Zeitverschwendung. Die Chinesen sahen keine Grundlage für eine Diskussion. Die sowjetische Delegation unterbreitete eine Vielzahl von Vorschlägen zur Verbesserung ihrer logistischen Unterstützung für die Nordvietnamesen. Kossygin fragte um Erlaubnis für den Transport von sowjetischen Kampfflugzeugen nach Vietnam über China. Tschu schlug stattdessen vor, dass chinesische Piloten die Maschinen den ganzen Weg von Moskau fliegen. Kossygin lehnte ab. Kossygin fragte die Chinesen an, dass diese ihre Bahnlinie nach Vietnam für sowjetische Waffenlieferungen zugänglich machen und die Lebensmittelversorgung auf den Straßenweg verlegen. Tschus Gegenvorschlag war es, dass die Sowjetunion mehr Schiffe umleiten und die Waffen auf den Seeweg liefern sollte. Kossygin fragte, ob 103

104 die Sowjetunion Radarsysteme für die Flugabwehr an der chinesischen Grenze zu Vietnam installieren dürfe. Tschu beschuldigte ihn verärgert, dass er versuche China in einen Krieg mit den Vereinigten Staaten zu involvieren. Als Kossygin vorschlug, dass die WVO Freiwillige über China entsenden würde, um die Nordvietnamesen zu unterstützen, wurde Tschu noch wütender. China, sagte er, würde dies als eine Verletzung seiner Souveränität betrachten. Die Vietnamesen, fuhr er fort, sind bestens befähigt diesem Krieg selbst zu begegnen. Sollten sie wanken, dann wird das chinesische Volk zu ihrer Unterstützung eilen, so wie wir die Koreaner unterstützt haben. China hat bereits achtzehn Mal damit gedroht auf vietnamesischer Seite zu intervenieren, wenn der Krieg weiter eskaliert. Bisher waren Ihre Androhungen nur reine Propaganda., protestierte Kossygin. China, entgegnete Tschu, ist niemanden Rechenschaft schuldig für seine Entscheidungen am allerwenigsten der Sowjetunion. Sie haben Raketen. Wenn Sie wollten, könnten Sie die Imperialisten in Vietnam jederzeit stoppen, Genosse Kossygin. All Ihre Vorschläge zielen darauf ab das chinesische Volk unter sowjetischer Kontrolle zu bringen. Ich kann Ihnen versichern: Sie werden scheitern., schlussfolgerte er und beendete die Diskussion. Der Besuch von Kossygin in Hanoi diente dazu, um der gesamten kommunistischen Bewegung zu zeigen, dass 104

105 die Sowjetunion die Nordvietnamesen unterstützte, und noch viel wichtiger um den Einfluss der Sowjets in der Partei der Werktätigen Vietnams (PdWV, später KPV) zu stärken. Dem Ersten Sekretär, Lê Duẩn, wurde nachgesagt, dass er pro-chinesisch sei. Die Russen dachten darüber nach ihn umzubringen. Er schien jedoch seine Einstellung zu ändern nach dem Besuch von Kossygin. Dennoch stießen Kossygins militärische Vorschläge in Hanoi auf Ablehnung. Die Russen waren bestrebt ihre eigenen Piloten für den Kampf in Vietnam zu entsenden, da sie annahmen, dass die US Air Force aufgrund der Kampferfahrung in Vietnam einen Vorteil gegenüber den Luftstreitkräften der Sowjetunion erlangt. Die Nordvietnamesen lehnten das Angebot ab. Sie begründeten dies damit, dass, wenn sie die sowjetischen Freiwilligen übernehmen würden, sie auch die Chinesischen akzeptieren müssten. Und Letztere würden niemals das Land verlassen. Nach Aussagen von Kalaschnikow, unserem offiziellen Verbindungsmann zum ZK der KPdSU, besuchte Kossygin Peking ein zweites Mal auf seinem Weg nachhause, um persönlich mit Mao Tse-tung zu sprechen, und um in einer letzten Anstrengung ein Übereinkommen zu erreichen. Obwohl die Chinesen für seine Vorschläge zur militärischen Unterstützung von Vietnam unempfänglich waren, plante Kossygin einen eindringlichen Appell an den Parteivorsitzenden, um den Graben zwischen ihren Ländern zu überwinden. Beide Länder, schlug er 105

106 vor, sollten zunächst den Propagandakrieg beenden und danach eine weitere Weltkonferenz der kommunistischen Parteien ausrufen, um ihre Differenzen in der Öffentlichkeit beizulegen. Mao reagierte mit einer unverhohlenen Abfuhr. Er weigerte sich sogar Kossygin ernst zu nehmen und verhöhnte die Idee einer Weltkonferenz. Mit einem Lächeln sagte er, dass China sofort bereit wäre teilzunehmen, wenn die Russen zunächst für jeden klarstellen würden, dass sie ihre absurde Vorstellung vom sowjetischen Weltzentrum des Kommunismus aufgeben würden. In seiner Verzweiflung schlug Kossygin die Bildung einer antiimperialistischen Front aller Kommunisten und progressiven Kräfte vor, vor allem mit jenen in der Dritten Welt, um den Kampf gegen den Westen zu vereinen. Mao lehnte die Idee kurzerhand als ein weiteres Mittel zur Behauptung der sowjetischen Vorherrschaft ab. Wir können nur eine Schlussfolgerung aus diesen Zusammenkünften schließen., erzählte uns Kalaschnikow, Die Auseinandersetzung mit China wird ein langanhaltender Konflikt werden, der durch Verhandlungen nicht beizulegen ist. Die Lösung muss letztendlich militärisch sein. Bereits 1960 drängten die Sowjet-Marschälle Chruschtschow dazu die russischen Truppen an der Grenze zu China zu verstärken. Chruschtschow lehnte die Idee ab, da er nicht beschuldigt werden wollte, dass er versuche 106

107 ideologische Differenzen mit militärischer Gewalt zu lösen. Im darauffolgenden Jahr berichtete Sowjet-Marschall Malinowski der tschechoslowakischen Armee, dass die Russen drei weitere Brigaden an der chinesischsowjetischen Grenze aufstellen. Jedoch erst ab 1964 wurden dort die ersten regulären Einheiten stationiert. Im selben Jahr wurden die Grenztruppen in den betreffenden Gebieten wie Chabarowsk und Amur in erhöhter Alarmbereitschaft versetzt. Dies hatte dort eine Verfünffachung der Truppenstärke zur Folge die Aufstellung von taktischen Nuklearwaffen inbegriffen. Die Sowjetarmee begann 1961 damit ihre Kampfkraft zu steigern und errichtete Stützpunkte in der Mongolei im Rahmen des militärischen Bündnisses zwischen den beiden Staaten, welches 1946 gezeichnet wurde. Obwohl die Mongolei formell unabhängig war, wurde sie bisher als ein unbedeutender Satellit der UdSSR betrachtet. Die Sowjetführer waren jedoch schon immer beunruhigt über die chinesischen Ambitionen in dem Land, seitdem die Chinesen ein Hilfsprogramm für die Mongolei Mitte der 1950er initiierten. Die Russen unterstützten die Mongolen dabei deren nationale Identität hervorzuheben und brachten sie 1961 in die Vereinten Nationen ein. Die Sowjetarmee wurde in der Mongolei verstärkt und entlang der chinesisch-sowjetischen Grenze wurde ihre Truppenstärke gesteigert. Im Jahre 1966 gab das ZK der KPdSU eine Stellungnahme bekannt, in welcher die militante Politik des Politbüros bekräftigt und zudem der Aufbau 107

108 einer starken Militärpräsenz an der Grenze zu China autorisiert wurde. Dies gab einen neuen Impuls für die Kolonisierung und Erschließung von Sibirien. Marschall der Sowjetunion Andrei Gretschko, damals Oberkommandierender der WVO, besuchte Prag im Herbst 1966, um uns über die militärische Politik gegenüber China zu unterrichten. Zu dieser Zeit war es im Wesentlichen eine Politik der Eindämmung. Die sowjetischen Truppen sollten an der Grenze zu China verstärkt werden, was eine zeitweilige Schwächung unserer Verteidigung im Westen bedeuten würde. Wir müssen vorbereitet sein, sagte er, für den Fall, dass die NATO versucht diese Schwäche auszunutzen. Unsere konventionelle und nukleare Feuerkraft musste verstärkt werden. Um dies zu erreichen, wurde der Militärhaushalt der Tschechoslowakei um zwanzig Prozent erhöht. Später erklärte uns Gretschko, dass die UdSSR beabsichtigte China strategisch einzugrenzen, was Operative Zone des asiatischen Halbkreises bezeichnet wurde und die Sowjetunion als auch jene kontinentalen Länder umfasste, die an China angrenzten. Erfreulicherweise waren die meisten dieser Länder der von den Sowjets geführten Staatengemeinschaft wohlgesonnen und verhasst gegenüber den Chinesen, sagte Gretschko. Er gestand ein, dass die UdSSR bei der Manipulierung derer Regime Unterstützung benötigen würde. Er merkte an, dass unsere 108

109 Mitarbeit in Indien und Burma (heute Myanmar genannt) besonders nützlich wäre. Im Jahre 1967 wurden Gretschkos Ideen in den Operationsplan des sowjetischen Oberkommandos integriert, jedoch mit Modifikationen. Eine von denen war es, dass im Spannungsfall tschechoslowakische Truppen zur chinesischen Grenze verlegt werden sollten. Dieser Plan sah für die WVO im Osten nur eine Verteidigungslinie vor, da sie nicht stark genug waren, um eine offensivere Rolle einzunehmen. Marschall der Sowjetunion Sacharow, damaliger Generalstabschef und stellvertretender Verteidigungsminister, machte uns in Moskau deutlich, dass er bereits zu der Zeit vorausdachte, in der es erforderlich sein würde präventive Maßnahmen gegen China durchzuführen. Die Pessimisten in unserer Armee waren sich sicher, dass, wenn dieser Tag kommen würde, wir an der Frontlinie wären, und dass wir den ganzen Weg marschieren müssten, um dort hinzugelangen. 109

110 6 Probleme auf dem Balkan Das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis kam dem rumänischen Kommunistenführer Gheorghiu-Dej sehr gelegen. Er war ein überzeugter Betonkommunist. Er hatte seine Machtstellung in der Rumänischen Kommunistischen Partei (RKP) durch eine Serie von parteiinternen Säuberungen zwischen 1950 und 1952 gesichert, wobei er nicht nur die unbeliebten Opportunisten eliminierte, die der Partei nach dem Krieg beitraten, sondern auch die Kader, die in der Sowjetunion ausgebildet wurden die sogenannte Pauker Gruppe. Danach intensivierte er das Terrorregime, welches 1945 begann, und aus dem er 1958 als unangefochtener Herrscher von Rumänien hervorging. Er ignorierte die Beschlüsse des XX. Parteitages der KPdSU, da er wusste, dass die Entstalinisierung für ihn Selbstmord gewesen wäre. Dennoch trat in seinem Regime eine neue Generation von technischen Experten hervor, die unter der Führung von einigen Ökonomen der Partei Rumänien schrittweise in eine Politik der industriellen und wirtschaftlichen Expansion führten. Der Parteitag im Jahre 1960 genehmigte einen Fünfzehnjahresplan, um das Land in eine Industriemacht umzuwandeln. Zwei Jahre später wurde Gheorghiu-Dej von den Sowjetführern zurechtgewiesen, dass er gegen die Politik des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) agiere. Diese Politik sah eine indus- 110

111 trielle Spezialisierung in den Satellitenstaaten vor. Von Rumänien wurde erwartet, dass es sich auf Petrochemie und Landwirtschaft konzentriere und seine Pläne für eine weitreichende Industrialisierung aufgebe. Gheorghiu-Dej hatte nicht die Absicht sich der Sowjetunion zu widersetzen. Jedoch wusste er, dass er ein großes Geschäft aus der Förderung des neuen Kaders an Technikern verlieren wird, wenn er nachgeben würde. Seine neutrale Haltung zum chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis wurde außerdem als eine Provokation von der KPdSU angesehen. Seine tatkräftigen kommerziellen Initiativen Richtung Westen zur Unterstützung der Industrialisierung brachten viel Zuspruch innerhalb seines Landes ein. Für Gheorghiu-Dej war Zufriedenheit, wenn auch für seine eigenen Zwecke, eines der größten emotionalen Bedürfnisse des rumänischen Volkes, trotz des Standpunktes der Sowjetunion. Ihm war jedoch durchaus bewusst, dass Chinas Ausschluss von der kommunistischen Bewegung den Sowjets eine günstige Gelegenheit bot, um ihren Willen gegenüber Rumänien durchzusetzen. Deshalb scheute er keine Mühen, um einen Dialog zwischen den beiden Supermächten anzuregen. Nach 1960 kamen Rumänien zwei Faktoren zugute, um seine prekäre Lage der Neutralität zu bewahren. Erstens, trotz seiner Differenzen mit der KPdSU, hatte der Kreml keine Bedenken, dass der Kommunismus in Rumänien wankt. Dort gab es keine innenpolitische Liberalisierung. Im Gegenteil: Gheorghiu-Dej und seine Nachfolger be- 111

112 herrschten das Land mit eiserner Hand. Was auch immer Chruschtschow persönlich dachte, was das Scheitern von Gheorghiu-Dej bei der Entstalinisierung betraf im Gegensatz zu Polen und Ungarn verlor die Partei in Rumänien niemals die Kontrolle. Durch den gekonnten Einsatz des marxistisch-leninistischen Vokabulars konnten die Rumänen ihre Politik behaupten, was der KPdSU keine ideologischen Vorwände für einen direkten Eingriff zuließ. Zweitens, Rumänien hatte, anders als Ungarn und die Tschechoslowakei, keine gemeinsame Grenze mit dem Westen und stellte nur Truppen für die zweite Welle der WVO. Die Sowjetführer wollten nicht deren Verachtung provozieren, die ein militärischer Einsatz zur Folge gehabt hätte schon gar nicht für ein Land, das bei weitem nicht so bedeutend für die sowjetische Sicherheit ist wie mein eigenes Land. Rumäniens Neutralität im chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis belastete seine Beziehungen mit der WVO erheblich. Der Kreml verdächtigte sogar, dass dessen Vorsitzender des Ministerrates, Ion Maurer, ein Agent der Chinesen war. Im Jahre 1962 erhielt Novotný ein Schreiben von Chruschtschow, welches uns anwies den Austausch von nachrichtendienstlichen Informationen mit den Rumänen zu begrenzen. Über China und pro-chinesische Parteien und Regime gaben wir ihnen keine weiteren Informationen mehr. Ebenfalls verbotene Sachverhalte waren: politische Aufklärungsergebnisse über 112

113 die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, alles über Jugoslawien und Albanien, und detaillierte Aufklärungsergebnisse über die NATO. Wir beschränkten unseren Informationsaustausch auf allgemeine Einschätzungen über die politische und militärische Situation in Westeuropa. Die Sowjetunion war besorgt den Rumänen keinen Vorwand zu liefern, der zu einem Austritt aus der WVO oder dem RGW führen könnte. Deshalb nahmen sie wieterhin an allen wichtigen Zusammenkünften dieser Organisationen teil. Ihre Präsenz bei den Tagungen der WVO hemmte jedoch die Diskussionsbereitschaft sie wurden zunehmend öfter von Zusammenkünften über nachrichtendienstliche Angelegenheiten ausgeschlossen. Im Jahre 1963 begann die Sowjetunion damit die WVO von seiner defensiven auf eine offensive Ausrichtung umzustellen. Dieser Vorgang führte folgerichtig zu zunehmenden Militärausgaben, was für die Sowjetunion ein großer wirtschaftlicher Vorteil war, da sie der wichtigste Waffenlieferant der Vertragsorganisation war. Die Rumänen lehnten es dennoch ab ihre Militärausgaben zu steigern und erklärten, dass sie keine weiteren Militärmanöver durchführen würden es sei denn die Vertragsorganisation würde für die Kosten aufkommen. Noch viel gefährlicher war ihre Behauptung, dass sie keinen Grund für eine militärische Aufrüstung sehen, da sie glaubten, dass keinerlei Bedrohung von dem Westen ausging. Dies war in der Tat Ketzerei. Und die Russen 113

114 befürchteten, dass sich diese Ansicht unter den anderen Mitgliedern der Vertragsorganisation verbreiten könnte. Nachdem viel Druck ausgeübt wurde, stimmten die Rumänen letztendlich zu die Militärausgaben leicht zu erhöhen. Wenn die Sowjets leichtere Zeiten nach der Abreise von Gheorghiu-Dej erwartet hatten, wurden sie enttäuscht. Sein Ableben im Jahre 1964 war der Beginn eines neuen anti-sowjetischen Kurses in Rumänien vom Politbüro bis hinunter zu den Parteiorganisationen auf Kreisebene. Nicolae Ceaușescu wurde der Erste Sekretär. Eine seiner ersten Handlungen war die erhebliche Reduzierung der sowjetischen Berater in der Rumänischen Volksarmee und im Innenministerium. Er warnte die verbliebenden Berater, dass es ihnen nicht gestattet sei an irgendeinem Treffen teilzunehmen, zu dem sie nicht gesondert eingeladen wurden. Außerdem wurde ihnen untersagt Verbindung zu den Funktionären aufzunehmen, um sie direkt nach Informationen anzufragen. Wenn sie ein Treffen wollten, mussten sie sich an den Verteidigungsminister oder an Ceaușescu wenden. Zudem befahl Ceaușescu allen rumänischen Offizieren, die eine russische Frau hatten, sich scheiden zu lassen und sie zurück in die UdSSR zu schicken oder die Entlassung aus der Armee zu beantragen. Die Sowjets hatten den Frauen selbstverständlich nicht erlaubt die Nationalität zu wechseln. Wir waren nicht davon überrascht, als die Rumänen 1966 Änderungen in der Kommandostruktur der WVO 114

115 vorschlugen. Sie beanstandeten, dass dies keine Organisation von Gleichberechtigten sei, sondern ein verlängerter Arm der Sowjetunion, und dass das sogenannte gemeinsame Kommando der Vertragsorganisation nicht existierte es war einfach nur der sowjetische Generalstab. Wenn die Vertragsorganisation wirklich effektiv sein sollte, beanstandeten sie, dann müsste er auf Gleichheit zwischen den Nationen beruhen. Und diese Gleichheit müsste sich in der Kommandostruktur widerspiegeln. Sie schlugen zunächst die Schaffung eines Kommandos für die WVO vor, das vom sowjetischen Oberkommando losgelöst ist, und das von Kontingenten jedes Landes gestellt wird. Zudem regten sie an, dass die Posten des Kommandierenden und des Stabschefs vom Politischen Beratenden Ausschuss (PBA) der WVO geführt werden sollten, sodass, während alle Mitglieder Kontingente für die WVO abstellen, jede Nation das Recht haben sollte, um einen Teil seiner Streitkräfte unter seinem eigenen Kommando zu behalten. Auf Anweisung der Sowjets bereiteten wir und die Ungarn einen Gegenvorschlag vor, dem schließlich im Jahre 1968 zugestimmt wurde, nachdem ich überlief. Durch die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei wurde die widerspenstige Haltung der Rumänen etwas gemäßigter. Unser Vorschlag war, dass die Sowjetunion den Oberbefehl behalten sollte, dass ein Militärkomitee der Verteidigungsminister der Vertragsorganisation einge- 115

116 schränkte Kontrollbefugnisse genießen sollte, und dass es ein gemeinsames Kommando mit Sitz in Moskau geben sollte, welches von Offizieren aller Armeen gestellt wird. Die UdSSR war gewillt das Kommando in die WVO zu integrieren. Von den sowjetischen Streitkräften sollten jedoch nur jene diesem Kommando unterstellt werden, die in Europa eingesetzt wurden. Das bedeutete, dass die Hauptstreitkräfte außerhalb der Kontrolle der Vertragsorganisation blieben. Dafür verblieb der Großteil der Armeen der Satellitenstaaten unter der Befehlsgewalt der Vertragsorganisation. Der Operationsplan der Sowjetarmee blieb weiterhin unter der Kontrolle des sowjetischen Generalstabs, wo weiterhin die wahre Macht innewohnte. Im Jahre 1967 demonstrierten die Rumänen wieder ihre Unabhängigkeit von der sozialistischen Staatengemeinschaft und zeigten ihre Ablehnung gegenüber der sowjetischen Nah-Ost-Politik. Zudem verweigerten sie die Teilnahme an einer Dringlichkeitssitzung der Vertragsorganisation, auf der die Auswirkungen des arabischisraelischen Krieges (Sechstagekrieg) besprochen wurden. Ceaușescu war sich jedoch bewusst, dass die Sowjetunion nicht einfach zusehen würde, wie Rumänien aus der WVO austritt. Er war vorsichtig genug nicht so weit zu gehen. Die Abtrünnigkeit von Albanien im Jahre 1960 war eine bittere Erfahrung für die KPdSU. Ich besuchte Tirana 116

117 1958 als Gast des Verteidigungsministers, Beqir Balluku, und blieb für drei Wochen in dieser unschönen modernen Stadt. Dort gab es eine eindrucksvolle Aussicht mit zerklüfteten Bergen, die steil von Nord nach Osten verliefen. Eine Erlaubnis zu bekommen, um diese herrliche Landschaft näher zu betrachten, war jedoch nicht möglich. Alles, was ich aus dem Fenster in dem Büro des Ministers sehen konnte, war ein Baum, der von Chruschtschow einige Monate zuvor eingepflanzt wurde nun war er am Absterben. Die militärischen Führer der Albaner wurden allesamt in der Sowjetunion ausgebildet. Die politischen Diskussionen, die ich mit ihnen hatte, deuteten eine Unstimmigkeit zwischen der Partei der Arbeit Albaniens (PdAA) und der KPdSU an, was die Ergebnisse des XX. Parteitages der sowjetischen Partei und Chruschtschows Annäherungsversuch an Jugoslawien betrifft. Bei unserem Begrüßungsessen hielt Balluku eine Rede, bei welcher er seine Zweifel hinsichtlich der Notwendigkeit einer umfangreichen Verurteilung von Stalin ausdrückte. Er sprach sogar ein Prosit auf die baldige Ermordung von Tito aus. Die Albaner waren besessen von der Idee der Wiedereingliederung der albanischen Minderheit in der jugoslawischen Provinz Kosovo. Es gab dort immer noch eine Vielzahl von sowjetischen Beratern in Albanien. Tatsächlich gab es sogar einen russischen U-Boot-Bunker an der Küste in der Nähe von Tirana. Es war jedoch offensichtlich, dass Enver Hodscha, 117

118 Erster Sekretär der PdAA, die absolute Macht innehatte. Sein Foto und seine Büsten waren überall hervorstechend in den Geschäften, in den Schulen, in den Kinos, und sogar in den Kirchen. Im Vergleich dazu schien Stalins Personenkult bescheiden. Es gab noch andere ernstere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Tyrannen. Während eines Besuchs einer LPG fragte ich meine Begleiter, ob die Kulaken irgendwelche Probleme verursachen. Ich dachte dabei an die Tschechoslowakei, wo die meisten von denen ihre eigenen Bauernhöfe besaßen und selbstverständlich unwillig waren in der Kollektivierung aufzugehen. Nein., antwortete mein Begleiter vollkommen gelassen, Wir haben sie alle umgebracht. Im Jahre 1959 machte Enver Hodscha einen offiziellen Besuch in Prag. Ich begleitete ihn bei einem einwöchigen Jagdausflug zur Burg Padrt. Er war ein kaltschnäuziger enthaltsamer Mann, der nur selten sprach. Er war ein eifriger Jäger, aber kein guter Schütze. Dennoch wurde er als ein Jäger des Heiligen Hubertus vorgestellt. Gemäß der Tradition legte er sich über den Hirsch, den er bereits geschossen hatte, und bekam drei Schläge von der flachen Seite eines Schwertes auf seinem üppigen Hintern. Hodscha war ziemlich offen bei seiner Kritik über die Politik der KPdSU. Nachdem er nach Tirana zurückkehrte, ergriff er verschiedene Maßnahmen, um sich selbst von der UdSSR zu distanzieren. Eine davon war es die sowjetischen Berater und deren Familien zunehmend zu 118

119 schikanieren, was bis 1960 ausgedehnt wurde, bis Chruschtschows Geduld am Ende war. Bei der Politischen Konsultativkonferenz in Moskau desselben Jahres unterbrach er eine Rede von Balluku, bei welcher der Letztgenannte die albanisch-sowjetische Freundschaft anpries, und brüllte: Lügt uns nicht an! Eure Einflussagenten spucken in die Gesichter von unseren Beratern, verfolgen deren Kinder, und stehlen das Essen aus deren Wohnungen. Ist das die Art und Weise, wie ihr die Liebe zum sowjetischen Volk ausdrückt? Balluku nahm seinen Text und verließ Tirana ohne ein Wort zu sagen. Hodscha ließ die Russen aus Albanien ausweisen. Seine Truppen marschierten in den adriatischen Hafen ein und beschlagnahmten dort sämtliche Ausrüstung der Sowjets mit Ausnahme der U-Boote, die in See stechen mussten. Die sowjetischen Berater schätzten sich glücklich, dass sie mit ihrem Leben davonkamen. Im Jahre 1956 wurde ich zum Sekretär des Militärkomitees des ZK der KPTsch ernannt und erlangte das erste Mal Einsicht in unserer Politik gegenüber Jugoslawien. Aus den Diskussionen im Militärkomitee wurde mir ersichtlich, dass unsere Nachrichtendienste eng mit dem KGB zusammenarbeiteten, um umfangreiche Maßnahmen zur Unterminierung von Tito durchzuführen. Die Russen waren besonders dankbar für unsere Zusammenarbeit aufgrund unserer historischen Verbindung mit 119

120 Jugoslawien. Im Jahre 1948 unterstützten wir sie bei der Etablierung der illegalen Kommunistischen Partei von Jugoslawien (KPJ, später BdKJ), die von Moskau gesteuert wurde und sich mit unserer Unterstützung behaupten konnte. Sie war ein geheimer Apparat in Jugoslawien in Opposition zu Tito. Die Russen installierten auch geheime Zellen in Titos Gewerkschaft und in der Jugendorganisation. Sie schürten zudem Unruhen und Sabotageaktionen in den Fabriken. Außerdem brachten sie eine Vielzahl an jugoslawischen Diplomaten dazu in die Sowjetunion überzulaufen. Der KGB ging sogar so weit einige entbehrliche pro-sowjetische Jugoslawen zu ermorden als wären sie verdächtige Titoisten. Stalins Tod im Jahre 1953 besänftigte die Feindseligkeiten. Jedoch erst ab 1955, als Chruschtschow Belgrad besuchte, trat eine Versöhnung ein. Chruschtschow erzählte uns bei der Politischen Konsultativkonferenz im Mai 1955, dass er bemüht war Tito persönlich kennenzulernen und einige andere jugoslawische Führer traf, um zu prüfen, ob es irgendeinen Handlungsspielraum gibt, um Tito näher an die sozialistische Staatengemeinschaft zu binden. Er erkannte das bedeutende Prestige, das Tito in der Welt genoss. Dennoch instruierte er uns die bereits begonnene Sozialisierung der BdKJ und der unteren Führungsebenen der jugoslawischen Volksarmee fortzusetzen. Unser Auftrag war es Verbindungen mit Sympathisanten im militärischen, wirtschaftlichen, und politischen Bereich zu schaffen, um die pro-sowje- 120

121 tische Untergrundbewegung zu stärken, die wir im Geheimen weiterhin unterstützten. Diese Unterstützung musste verdeckt geschehen, da Chruschtschow bei seinem Besuch in Belgrad zustimmte die Unterstützung für die illegale Opposition zu beenden. Als Zeichen seines guten Willens hatte er sogar das Kommunistische Informationsbüro (Kominform) aufgelöst, auch wenn dies natürlich nur eine Täuschung war. Seine Interpretation von Entspannungspolitik unterschied sich nicht viel von seinen Nachfolgern. Schon bald nach der Gründung der WVO im Jahre 1955 nahmen die Spannungen wieder zu. Tito betrachtete die Vertragsorganisation als ein Instrument, um der Sowjetunion mehr Kontrolle über die osteuropäischen Länder zu geben, und als eine Bedrohung für seine eigene Unabhängigkeit, auch wenn Jugoslawien später den Beobachterstatus in der WVO akzeptierte. Er begrüßte die Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU im darauffolgenden Jahr, insbesondere die Kampagne der Entstalinisierung, von welcher er hoffte, dass die Sowjetunion eine tolerantere Politik betreiben würde. Er machte einen erfolgreichen Besuch in der Sowjetunion im Juni Allerdings beunruhigte ihn die brutale Reaktion der Sowjets auf die Krise in Polen und Ungarn. Obwohl er die sowjetische Intervention in Budapest öffentlich guthieß und sogar über die Beschlagnahmung der Jugoslawischen Botschaft durch den ungarischen Vorsitzenden des Ministerrates, Imre Nagy, hinwegsah, attackierte er nach- 121

122 drücklich die dominanten Stalinisten in verschiedenen kommunistischen Parteien. Ab 1957 übernahm die chinesische Agitation eine besonders kompromisslose Linie gegenüber Jugoslawien. Chruschtschow machte es jedoch klar und deutlich, dass es keine Rückkehr zu den verbitterten Konflikten der Stalin-Ära geben wird. Obwohl er die ideologischen Fehler von Jugoslawien angriff, drängte er dazu die Maßnahmen fortzusetzen, um eine Übereinkunft zu erreichen. Trotz der Verärgerung und den Beleidigungen zwischen der KPdSU und der BdKJ, blieben erstaunlicherweise die zwischenstaatlichen Beziehungen gut. Tito griff die Chinesen für ihren Stalinismus scharf an. Gegenüber der Sowjetunion übernahm er jedoch einen gemäßigteren Tonfall. Er erklärte, dass er keinen Kampf mit Moskau suche. Er bedauerte jedoch, dass Jugoslawien bei der Bewahrung des Sozialismus vor dem Verfall allein dasteht. Nach der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau im Herbst 1957 wurde eine Nachricht an alle Satellitenstaaten versandt, worin sie aufgefordert wurden die ideologische Offensive gegen Tito wiederaufzunehmen. Dennoch verbesserten sich die Beziehungen zwischen der sozialistischen Staatengemeinschaft und Jugoslawien aufgrund der Ausweitung des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses in den Jahren 1961 bis Vor Chruschtschows Niedergang besuchte sein Stellvertreter Breschnew Jugoslawien und Tito machte einen erfolgreichen 122

123 Gegenbesuch in Moskau. Tito bewunderte Chruschtschow für seine Kampagne mit der Entstalinisierung. Entgegen der Agitation war Chruschtschow mit Titos Außenpolitik zufrieden. 123

124 7 Friedliche Koexistenz Chruschtschow hielt eine Hauptrede bei einer Tagung des PBA der WVO in Moskau, an der ich auch teilnahm. Er analysierte die politische und militärische Situation in der gesamten Welt und beschrieb die Taktiken, von denen er glaubte, dass die sozialistische Staatengemeinschaft sie verfolgen sollte. Ich verwende das Wort Taktiken mit Bedacht, da das Hauptziel der kommunistischen Strategie unverändert blieb die kommunistische Weltherrschaft, geführt von der UdSSR. Dieses Ziel wird auch weiterhin konstant verfolgt unabhängig durch jedweden Führungswechsel. Nur die Taktiken variieren. Ein Kernthema von Chruschtschows Rede war die Notwendigkeit zur Entwicklung einer kohärenten Politik in Richtung NATO. Deshalb suchte der Kreml nach westeuropäischen Anführern, die für die neue sowjetische Linie der friedlichen Koexistenz empfänglich wären. In dem britischen Premierminister, Harold Macmillan, glaubte Chruschtschow einen natürlichen Verbündeten gefunden zu haben. Er ist ein realistischer Politiker, erzählte er uns, der verstanden hat, dass der Verfall des Vereinigten Königreichs, der nach dem Krieg eintrat, nur durch neue Initiativen aufgehalten werden kann nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in Europa. 124

125 Er war sehr beeindruckt von Macmillans Politik der Dekolonisierung. Und er sah Anzeichen dafür, dass der britische Premierminister eine wichtige Rolle einnehmen wollte, um die Beziehungen zwischen Ost und West zu verbessern. Der Kreml ging davon aus, dass Macmillan das Wiederaufleben von Westdeutschland befürchtete, und dass er schlussfolgerte, dass der Aufschwung der Deutschen auf das Fortbestehen des Kalten Krieges beruhte. Chruschtschow dachte außerdem, dass Macmillan durch die Möglichkeit von wirtschaftlichen Vorteilen aufgrund einer zunehmenden Annäherung an die sozialistische Staatengemeinschaft beeinflusst werden könnte. Schließlich rechnete er damit, dass Macmillan auf einen Vorschlag für eine freundschaftliche Beziehung mit der UdSSR durchaus positiv reagieren dürfte, da dies seine Kolonialpolitik erleichtern würde und es somit für Großbritannien einfacher wäre gute Beziehungen mit dessen ehemaligen Kolonien aufzunehmen. Kurzgefasst: Chruschtschow sah in Macmillan die Art von Anführer, die letztendlich bereit wären den Westen an den Verhandlungstisch zu bringen. Und er dachte, dass es noch einige andere von seinem Schlag in Westeuropa gab, die ähnlich geneigt waren. Chruschtschow verzweifelte an der britischen Arbeitspartei (Labour Party). Im Vergleich zu Gaitskell, er sprach den Namen mit Abscheu aus, ist Macmillan ein progressiver Politiker. Die britische Arbeitspartei behauptet eine Partei für die 125

126 Arbeiterklasse zu sein. Macmillan, der Anführer der Bourgeoisie, hat hingegen ein besseres Verständnis für die Veränderungen, die in der Welt geschehen, als die Führer der Arbeitspartei. Sie leben noch immer im neunzehnten Jahrhundert! Wenn der Kommunismus morgen in Großbritannien siegen würde, dann wäre Gaitskell einer der ersten, die aus dem Westminsterpalast als Verräter der Arbeiterklasse gejagt werden. Nach dem XXI. Parteitag der KPdSU im Frühjahr von 1959 unterrichtete Chruschtschow wieder die Führer der osteuropäischen Parteien. Er erzählte uns, dass die sozialistische Staatengemeinschaft ihre Sichtweise über Charles de Gaulle ändern müsse. Seitdem er an die Macht kam, hatten sowjetische Aufklärungsergebnisse über seine privaten Diskussionen eine flexiblere Haltung gegenüber der sozialistischen Staatengemeinschaft angedeutet. Zur gleichen Zeit schlussfolgerten die Russen, dass de Gaulle über alles von der Idee zur Wiederherstellung von Frankreichs Größe besessen war. Chruschtschow ahnte, dass dies de Gaulle dazu führen würde eine ausgeprägtere Rolle für Frankreich zu suchen, wodurch folgerichtig Differenzen mit den Vereinigten Staaten und de Gaulles Verbündeten in Europa entstehen würden. Zu dieser Zeit konnte die Haltung der Sowjets ihm gegenüber nicht öffentlich geändert werden, sagte Chruschtschow, da es kontraproduktiv gewesen wäre einem Anführer offiziell zuzustimmen, der im Allgemeinen als Reaktionär angesehen wurde. Darüber hinaus bekämpfte 126

127 die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) immer noch de Gaulle gewaltsam und musste jedweder Kehrtwendung zustimmen. Außerdem war seine Politik teilweise gegen unsere Interessen gerichtet, wie zum Beispiel die Bildung einer speziellen Beziehung mit Adenauer. Daher sollte der neue Anführer nicht durch einen Zuspruch unsererseits ermutigt werden. Novotný widersprach der Beurteilung von Chruschtschow und äußerte ihm gegenüber, dass er kein Vertrauen in de Gaulle hat, und dass er nicht überrascht wäre, wenn dessen Aufstieg an die Macht den Faschismus in Frankreich noch weiter vorantreiben würde. Trotzdem akzeptierte er Chruschtschows Instruktionen für die Tschechoslowakei, wonach alle denkbaren politische als auch inoffizielle Kontakte mit Frankreich entwickelt werden sollten. Gemäß Chruschtschow war es von Bedeutung gute Aufklärungsergebnisse über de Gaulles Politik zu haben. Darüber hinaus ergänzte Chruschtschow, dass wir de Gaulle nicht ausnutzen könnten, wenn wir keine sorgfältigen Erkenntnisse über seine Haltung hinsichtlich der anderen Westmächte hätten. Dies bekam eine hohe Priorität bei unseren Nachrichtendiensten. Achtzehn Monate später fand eine Konferenz der Verteidigungsminister und Stabschefs der WVO in Moskau statt, an dem ich teilnahm. Chruschtschow lobte sich selbst für seine korrekte Prognose, dass de Gaulles Chauvinismus und seine Vorstellung vom glorreichem 127

128 Schicksal Frankreichs die Einheit des Westens schwächen würde. Chruschtschow schätzte offensichtlich de Gaulles zielstrebigen Egoismus. Es ist erkennbar, erzählte er uns, dass er mit den Vereinigten Staaten auf Augenhöhe sein will. Er hat den Faschismus in Algerien und in Frankreich zerstört. Nun glaubt er, dass er mit der kommunistischen Partei auf die gleiche Art verfahren kann. Es liegt an unsere französischen Genossen dafür zu sorgen, dass er scheitert. Ich sehe nur Vorteile, fuhr Chruschtschow fort, bei der Unterstützung für de Gaulles Bemühen aus Frankreich einen Konkurrenten für die Vereinigten Staaten zu machen. Selbstverständlich besteht die Gefahr, dass dies zu einer unerwünschten Machtzunahme der Franzosen in der Welt führt und deren Einfluss stärkt, vor allem in den Entwicklungsländern. Auf der anderen Seite ist es den Schaden durchaus wert, den de Gaulle in der NATO und auf die Solidarität der westlichen Verbündeten anrichten kann. Er erzählte uns, dass Macmillan bei seinen Versuchen eine Übereinkunft mit uns zu erreichen einigen Schwierigkeiten begegnete, insbesondere einer starken Opposition im Parlament und der Londoner Finanzwelt. Auch wenn er die Sozialisierung von Macmillan fortsetzte, dachte Chruschtschow von nun an, dass der französische Anführer auf lange Sicht die bessere Wahl war. De Gaulle ging ernsthaft in seiner Rolle als vermeintlicher Anführer der Welt auf. Er unternahm Anstrengun- 128

129 gen, um Polen und Rumänien von der WVO loszulösen. In Rumänien war er effektiver als in Polen. Bei seinem Besuch in Warschau überredete er die Verantwortlichen in der PVAP dazu ihm eine Rede im Fernsehen zu ermöglichen. In seiner Rede pries er die Leistungen der Polen an und richtete unverfroren einen Appell an ihre nationalen Empfindungen. Gomułka sandte dem sowjetischen Politbüro einen detaillierten Bericht über de Gaulles Besuch und dessen Bemühungen die Polen von der Sowjetunion abzutrennen. Dies umfasste einen Vorschlag eine demilitarisierte Zone in Europa zu errichten, die Polen beinhalten würde. De Gaulle bot zudem an die Oder-Neiße-Grenze zu Deutschland anzuerkennen, um die Unterstützung der Polen zu gewinnen. Die Rumänen gaben dem Kreml keine Informationen über de Gaulles Besuch. Die Russen hatten jedoch alles, was sie benötigten, über ihre nachrichtendienstlichen Quellen erfahren. Wir selbst erhielten einen umfassenden Bericht über den rumänischen Vorsitzenden des Ministerrates, Ion Maurer, und dessen Besuch nach Paris, wo er politische und wirtschaftliche Diskussionen mit de Gaulles abhielt. Maurer argumentierte, dass Rumänien seinen eigenen nationalen Kurs verfolgen will, jedoch derzeitig den RGW nicht verlassen kann, da dessen Wirtschaft zu eng mit der Organisation verflochten ist. Zu der Zeit war das Land entschlossen seine Wirtschaft zu diversifizieren und engere Beziehungen mit dem Westen zu schmieden. 129

130 De Gaulle sicherte Maurer zu, dass Frankreich Rumänien helfen und wirtschaftliche und politische Unterstützung geben würde, um dessen Unabhängigkeit zu fördern. Er würde sogar Rumänien finanzieren, wenn es beabsichtigt die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu beantragen. Frankreich würde dem Land beistehen, wenn es von der sozialistischen Staatengemeinschaft isoliert wird. Das, was de Gaulle erzählte, war Unsinn, da Rumäniens Handel zu sechzig Prozent mit dieser Staatengemeinschaft und zu vierzig Prozent mit der Sowjetunion erfolgte. Selbst der gesamte Westen geschweige denn Frankreich alleine könnte bei einem Boykott des RGW Rumänien nicht stützen. Dennoch ging de Gaulle noch weiter: Er schlug Frankreich als alternativen Waffenlieferanten für Rumänien vor und verpflichtete sich dem Land beizustehen, wenn die Streitkräfte der WVO einmarschieren würden. Die Reaktion von Sowjet-Marschall Malinowski auf diese militärischen Verpflichtungen lässt sich nicht in Worte fassen. So sehr wir auch die französischen Streitkräfte respektierten, konnten wir uns nicht vorstellen, wie sie die Rumänen dabei unterstützen sollten einen Blitzkrieg der WVO zu widerstehen. Unser Operationsplan, so wie er damals existierte, war darauf ausgelegt, dass im Ernstfall der Krieg (u.a. mit Frankreich) in zwei Tagen beendet sein würde. Wenn de Gaulle jemals versuchen sollte seine Versprechungen für die Rumänen umzusetzen, kommen- 130

131 tierte Malinowski, dann sollten wir alles über seine Befehle wissen, noch bevor sie den französischen Oberbefehlshaber erreichen. Trotz de Gaulles unrealistischen Initiative mit Rumänien waren die Russen beunruhigt. Während Chruschtschows letztem Besuch in der Tschechoslowakei im Jahre 1964 erzählte er uns, dass sie die Bestrebungen der Rumänen tolerieren könnten, was die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom RGW betrifft. Wenn sie jedoch so verblendet sind und versuchen die Warschauer Vertragsorganisation zu verlassen, dann werden unsere Soldaten, und nicht de Gaulle, das letzte Wort haben. Ohne Zweifel hatten wir bereits genug Ärger mit den Rumänen., schaltete sich Novotný dazwischen, Vielleicht wäre es besser, wenn sie aus der Warschauer Vertragsorganisation geworfen werden. Chruschtschow war entsetzt. Sie liegen vollkommen falsch., knurrte er Novotný an, Das ist genau das, was die rumänischen Führer wollen. Die ganze Situation auf dem Balkan würde außer Kontrolle geraten, wenn die Rumänen den Jugoslawen und Albanern in das anti-sowjetische Lager folgen würden. Es ist die Pflicht der Partei, dass Rumänien in der Vertragsorganisation verbleibt, und dass Jugoslawien und Albanien wieder mit unserer sozialistischen Familie vereint werden. Nach Chruschtschows Niedergang setzte Breschnew die Politik der Sozialisierung von de Gaulle fort. An ei- 131

132 nem Tag im April 1965 saß ich mit ein paar Freunden im slawischen Café von Prag, gegenüber der Straße vom Nationaltheater, und sah auf der anderen Seite vier Tschaika heranfahren. Aus ihnen stiegen Novotný und Breschnew. Letzterer machte seinen ersten unangekündigten Besuch in der Tschechoslowakei, seitdem er die Macht erlangte. Ich war neugierig herauszufinden, was der Grund für Breschnews Besuch war. Die Rundschreiben, die darüber veröffentlicht wurden, genügten mir nicht. Ich telefonierte mit Novotnýs Sohn, mit dem ich noch befreundet war. Er lud mich zu einem Mittagessen im Schloss am Folgetag ein, wo sein Vater regelmäßig pünktlich um dreizehn Uhr erschien. Als ich vor unserem Staatsratsvorsitzenden erwähnte, dass ich ihn mit Breschnew gesehen hatte, gab er mir einen Bericht über den Besuch. Am interessantesten waren die Bemerkungen des Sowjetführers über de Gaulle. Breschnew hatte mitgeteilt, dass er bei seiner Machtübernahme ein Schreiben an den französischen Präsidenten übersandte, in welchem er seine Hoffnung für die Fortsetzung der Freundschaft ausdrückte. Breschnew und die KPdSU betrachteten de Gaulle nicht nur als ein Instrument, um die NATO und die Präsenz der Amerikaner in Europa zu schwächen. Sein Veto gegen den Antrag von Großbritannien für einen Betritt zur Wirtschaftsgemeinschaft führte dazu, dass Breschnew glaubte, dass er de Gaulle ausnutzen könnte, um den Einfluss der EWG noch weiter zu schwächen. Daher sollten wir damals jede 132

133 Möglichkeit nutzen, um die anti-französischen Empfindungen in Westeuropa zu stärken, um so einen Keil zwischen Frankreich und Westdeutschland zu treiben. Bei den Treffen des Militärkomitees des ZK hatte uns der Innenminister hervorragende Aufklärungsergebnisse über das deutsche Kanzlerbüro präsentiert, die sogar bis in die frühen Tage von Adenauers Regierung zurückgingen. Wir hatten daher eine gute Ausgangslage, um den Austausch zwischen den Deutschen und de Gaulle zu überwachen. Wir hatten zum Beispiel eine vollständige Aufnahme von dem vertraulichen Treffen zwischen dem französischen Präsidenten und dem deutschen Kanzler im Jahre In dem Treffen diskutierten sie die Möglichkeit einer Lieferung von nuklearen Waffen aus Frankreich an die Bundeswehr. Zudem beschlossen sie dabei, dass Großbritannien noch nicht bereit war der EWG beizutreten. Breschnew dachte, dass es einen großen Handlungsspielraum für Manipulationen gäbe, und dass wir de Gaulles Größenwahn nutzen könnten, um Frankreich und Westeuropa zu schwächen. Die Russen waren stolz auf ihre Informanten und Einflussagenten im Umfeld von de Gaulle. General Alexander Kuschew, der militärische Repräsentant der Sowjets in der Tschechoslowakei, gab uns zum Beispiel ein konkretes Datum über de Gaulles beabsichtigten Austritt aus der NATO, was für uns vorteilhaft war. Breschnew war jedoch beunruhigt über die wachsende Opposition gegen de Gaulle innerhalb von Frankreich. Es 133

134 gab Anzeichen, dass die Ära von de Gaulle bald zu Ende war. Die Russen wussten, dass viele Franzosen zunehmend enttäuschter waren über de Gaulles Annäherungsversuche an die sozialistische Staatengemeinschaft auf Kosten der guten Beziehungen mit seinen westlichen Verbündeten. Genosse Breschnew erzählte mir, sagte Novotný, dass es für uns von großer Bedeutung ist in diese Oppositionskreise einzudringen, um herauszufinden, wie groß ihr Einfluss tatsächlich ist, und um in Erfahrung zu bringen, wie wir sie am besten neutralisieren können. Unsere sowjetischen Genossen denken sogar darüber nach einen Kooperationsvertrag mit Frankreich nach dem alten Schema einzuführen, um de Gaulles Ansehen als großer Staatsmann zu stärken. Gemäß Genosse Breschnew dürfte diese Geste de Gaulles Bemühungen hemmen, was die Unterminierung des sowjetischen Einflusses auf unsere Verbündeten in der Warschauer Vertragsorganisation betrifft. Es schien so, dass Breschnew über das Fortbestehen der osteuropäischen Einheit genauso besorgt war wie Chruschtschow, insbesondere was die Stellung von Polen und Rumänien innerhalb der Vertragsorganisation anbelangt. 134

135 8 Chruschtschows Niedergang Eine der besseren Charaktereigenschaften von Chruschtschow war seine Angewohnheit zur Selbstkritik. Nach seinem Sieg über die Anti-Partei-Gruppe erfolgte eine Sitzung in Prag. Er scheute sich nicht davor vor uns zuzugeben, dass jene, die ihn beschuldigten ein Stalinist wie Malenkow oder Molotow zu sein, absolut Recht damit hatten. Ich kroch vor Stalin wie alle anderen von denen., erklärte er, Die Alternative wäre die Exekution gewesen. Er führte seine Erklärung fort: Der Unterschied zwischen der Anti-Partei-Gruppe und mir ist, dass sie die Vergangenheit begraben wollten, sodass sie einfach in Vergessenheit gerät. Ich war jedoch entschlossen die Narben des Stalinismus aufzudecken, damit sie heilen können. Dies ist die einzige Möglichkeit, um eine Wiederholung des Stalinismus zu vermeiden. Die Gefahr einer Rückkehr zum totalen Personenkult besteht weiterhin, erzählte er uns. Das Verhalten der Delegierten beim XXI. Parteitag der KPdSU zeigte tatsächlich, dass Stalins Personenkult noch immer in den Köpfen der Parteihierarchie vorhanden war. Ein Delegierter nach dem anderen schmeichelte Chruschtschow und rühmte seine Führung, wodurch er mit Stalin praktisch gleichgestellt wurde. Chruschtschow konnte dies nicht länger ertragen. Er unterbrach einen Redner und verurteilte das 135

136 Plenum als Ansammlung von Speichelleckern, die ihm gegenübertraten, wie sie es mit Stalin getan hatten. Habt ihr nichts dazu gelernt?, fragte er wütend. Während meiner Anhörung bemerkte Chruschtschow einmal: Stalin kontrollierte meinen Körper, jedoch nie meinen Geist. Der Unterschied zwischen ihm und seinen Konkurrenten um die Macht war, dass ihre permanente Niederwerfung vor Stalin deren Intellekt ausgelaugt hatte. Nach Stalins Tod wurde Georgi Malenkow zum Ersten Sekretär und Vorsitzenden des Ministerrates vom ZK ernannt. Während Malenkow, Beria, und Molotow die Grabrede für Stalin auf dem Roten Platz vertrugen und sich selbst dazu verpflichteten seine Politik fortzusetzen, blieb Chruschtschow dabei erstaunlich leise. Drei Monate später, im Juli 1953, wurde Beria wie man heute weiß durch Offiziere des Generalsstabs verhaftet, während er auf dem Weg zum Politbüro war. Sie brachten ihn in einer Kaserne vor Gericht und beschuldigten ihn der Spionage für den Westen (offensichtlich erfunden), einer Verschwörung gegen die Führung, der Ermordung von tausenden seiner Landsleute (zweifellos wahr), und eine Menge anderer Verbrechen. Sowjet-Marschall Konew führte den Vorsitz bei der Gerichtsverhandlung und verurteilte Beria zum Tode. Das Urteil wurde durch ein Erschießungskommando angemessen durchgeführt. Auch wenn Malenkow den Fall mit Beria vor dem ZK rechtfertigen musste, war es Chruschtschow, der diese 136

137 Hinrichtung initiierte. Er überzeugte die anderen potentiellen Erben von Stalin erfolgreich, dass Beria einen Komplott plante, wobei die Führung beseitigt werden sollte, um die absolute Macht zu erlangen. Wie groß die Gefahr durch Beria auch war von ihm ging dennoch eine ernsthafte Bedrohung aus, vor allem durch seinen persönlichen Ehrgeiz und durch seinen Vorsitz in der Staatssicherheit. Durch seinen Tod verloren Malenkow und seine Unterstützer ihren einflussreichsten Verbündeten in dem aufkommenden Machtkampf mit Chruschtschow. Das erste Hindernis für die Entstalinisierung wurde entfernt. Chruschtschow hatte nun die Möglichkeit alle Unterstützer von Beria im MWD (später KGB) zu verfolgen und einen neuen Vorsitzenden zu ernennen, nämlich General Iwan Serow. Auch wenn er neu war auf diesem Posten, hatte Serow viel Erfahrung in nachrichtendienstlichen Angelegenheiten. Nach der Besetzung der baltischen Staaten durch die Sowjets im Jahre 1940 wurde er bei der Deportation von vielen Einwohnern nach Sibirien eingesetzt viele von ihnen starben auf dem Weg. Im Februar 1955 wurde Malenkow als Vorsitzender des Ministerrates durch Bulganin ersetzt. Dies ergab sich aus einer sorgfältig organisierten Kampagne von Chruschtschow. Dabei beschuldigte er Malenkow, dass dieser an den kriminellen Aktivitäten der Staatssicherheit unter Beria mitgewirkt und seine persönliche Macht im Namen von Stalin missbraucht hatte, wodurch die parteiinterne 137

138 Demokratie unterdrückt wurde. Tatsächlich hatte Malenkows Vorgehen viele Parteiführer entfremdet. Durch die Ernennung von Bulganin wurden daher die Befürchtungen vieler Parteiführer gemindert. Chruschtschows Strategie war es seine Widersacher gegeneinander auszuspielen. Er attackierte Molotow im Juli 1955, indem er eine einwöchige Debatte im ZK initiierte mit dem Thema: Die Fehler in der vergangenen Außenpolitik der Sowjets Anregungen für die Zukunft. Das Wort Fehler klang unangenehm in Molotows Ohren, da er der Außenminister unter Stalin war. Im kommunistischen System gibt es keine Fehler im Sinne von aufrichtigen akademischen Fehlgriffen. Wenn es dort Fehler gab, dann musste jemand wahrscheinlich er dafür leiden. Chruschtschow nutzte die Debatte, um die Reaktion auf seine eigenen Ideen hinsichtlich einer Annäherung an den Westen zu testen. Er kritisierte Stalins dogmatische Außenpolitik, wodurch die Sowjetunion isoliert wurde. Zudem hatten sich dadurch die Kapitalisten hinter den Vereinigten Staaten vereint und Tito hatte sich von der sozialistischen Staatengemeinschaft abgewandt. Chruschtschow beendete seinen Vortrag mit einem Aufruf für eine umfassende Neubewertung der Außenpolitik. Das ZK billigte sein Résumé und befürwortete seine Anregungen. Molotow wusste, dass seine Stunde geschlagen hatte. 138

139 Molotow und seine Anhänger waren nun besorgt, dass Chruschtschow den XX. Parteitag der KPdSU nutzen würde, um seine Unterstützer in die hohen Positionen der Partei einzubringen. Im Herbst 1955 wurde ich über ein Komplott informiert, bei dem Chruschtschow eliminiert werden sollte. Von dieser Verschwörung hörte ich das erste Mal, als Novotný vom XX. Parteitag nach Prag zurückkehrte. Er wies mich darauf hin, dass Chruschtschow Unterstützung benötigte, um die Beschlüsse dieses Parteitages umzusetzen, und dass er einer entschlossenen Opposition begegnen würde, die noch im selben Jahr ein Attentat auf ihn vorhatte. Es gab Hinweise, dass Molotow und Lasar Kaganowitsch den KGB instruierten Chruschtschow an der Grenze nach dessen Besuch in Finnland im Herbst festzunehmen. Sie beabsichtigten ihn aus dem Zug zu ziehen und ihn mit Vergehen gegen die Partei zu beschuldigen, die im Dienste des Kapitalismus stünden. Sie wollten ihn nach Moskau zurückführen und vor Gericht stellen. Chruschtschow selbst zweifelte daran, dass er jemals dort lebend angekommen wäre. Der Komplott wurde rechtzeitig von Sowjet-Marschall Georgi Schukow aufgeklärt, der damals Verteidigungsminister war. Er telefonierte umgehend mit Molotow und warnte ihn, dass er über die Verschwörung informiert ist, dass seine Truppen Moskau vollständig kontrollieren, und dass alle Beteiligten erschossen würden, wenn Chruschtschow irgendetwas geschehen würde. Molotow protestierte lautstark, dass er 139

140 nichts darüber wüsste. Der Komplott ist nie zustande gekommen. Als Chruschtschow nach Moskau zurückkehrte, initiierte er unverzüglich eine Untersuchung im KGB, da er als Erster Sekretär für den Nachrichtendienst verantwortlich war. Er ließ die Personen verhaften, die direkt involviert waren. Hunderte wurden entlassen. Chruschtschow unterrichtete uns über diese Angelegenheit, als er Prag im Jahre 1957 besuchte, nachdem die Anti-Partei-Gruppe gesäubert wurde. Er spottete über Molotows Unschuldsbekenntnis und erzählte uns, dass die Untersuchungen eine Verbindung zwischen den betroffenen KGB-Offizieren und der Anti-Partei-Gruppe aufdeckten. Nachdem er selbst einige der Verschwörer vernommen hatte, entschied er, dass ihm der KGB persönlich unterstellt wird. Sogar ein einfacher Torposten beim KGB-Hauptquartier, höhnte er, glaubt, dass er dem Ersten Sekretär der Partei vorgesetzt ist. Ihnen wurde so oft versichert, dass sie von der Partei bevorzugt werden, sodass sie nun denken, dass sie es besser wissen als die Väter der Revolution. Infolge des XX. Parteitages bildete die KPdSU ein Komitee zur Untersuchung von begangenen Fehlern des Nachrichtendienstes und des Justizsystems. Dessen Auftrag gemäß den Instruktionen des Parteitages war es die Verantwortlichen zu ermitteln und die Opfer zu rehabilitieren. Unter den bekannten Vorfällen, die es untersuchen 140

141 sollte, waren die Moskauer Gerichtsurteile der 1930er und die Fälle mit den jüdischen Ärzten aus Leningrad. Eines der zentralen Themen in der langen Geschichte der Säuberungen, die bis zu diesen Tagen anhielten, ist das Spannungsverhältnis zwischen dem KGB und der Sowjetarmee. Der Nachrichtendienst wusste immer, wie er die Ängste der Parteiführer manipulieren konnte, um die Macht über die Armee zu behalten. Ein Beispiel hierfür sind die Urteile und Hinrichtungen der Sowjetmarschälle und Generale vor dem Krieg gegen die Deutschen, wodurch die Kampfkraft der Roten Armee erheblich vermindert wurde. Sogar noch nach dem Krieg, als das Ansehen der Armee seinen Höhepunkt erreichte, war es dem KGB möglich Sowjet-Marschall Schukow, dem brillantesten Kommandeur der Armee, zu einem Landeskommando ostwärts des Urals zu verbannen, nur indem er mit Stalins Paranoia spielte. Die Umstände bei Chruschtschow Aufstieg zur Macht hatten eine entsprechende Tragweite bei seinem letztendlichen Niedergang. Die drei Säulen des sowjetischen Staates waren der Parteiapparat das Politbüro, das ZK, und die verzweigte Bürokratie der KGB, und die Sowjetarmee. Ohne starken Rückhalt von mindestens einem von ihnen kann niemand in der Sowjetunion herrschen. Chruschtschows anfängliche Unterstützer kamen vor allem aus der Armee. Als er deren Unterstützung verlor, waren seine Tage gezählt. 141

142 Die Allianz zwischen Chruschtschow und der Armee beruhte auf deren gemeinsame Abneigung gegenüber dem KGB. Die Armee musste zu Stalins Zeiten viel erleiden durch die Maßnahmen des NKWD, dem späteren KGB. Ein Beispiel ist der Fall um General Alexander Alexandrowitsch Kuschew, dem Repräsentanten des sowjetischen Militärs in der Tschechoslowakei von 1957 bis 1968 einer von tausenden Betroffenen in den Streitkräften. Er war der sympathischste und für mich der hilfreichste von allen sowjetischen Beratern in meinem Land. Er war ein Karriereoffizier des Heeres, der zum General ernannt wurde, als er 1933 mit vielen anderen Offizieren als westliche Spione in Haft war. Jeden Tag gingen die KGB-Vernehmer zu seiner Zelle und forderten, dass er sein Geständnis unterschreibt. Er verweigerte es jedes Mal. Deshalb schlugen sie ihn jeden Tag bewusstlos. Er verlor fast sein Augenlicht durch ihre Misshandlungen. Er war dennoch standhaft und verweigerte die Unterschrift. Nach zweijähriger Folter wurde er vor Gericht gestellt und zu fünfundzwanzig Jahren Gulag-Haft in Sibirien verurteilt. Wenn ich gestanden hätte, erzählte er mir, dann wäre ich zum Tode verurteilt worden. Infolge der Säuberungen und der Sturheit von Stalin fehlte es der Roten Armee an tausenden Offizieren bei dem Einmarsch der Deutschen. In seiner Verzweiflung wandte sich Stalin den Gulag-Lagern zu. Parteifunktionäre gingen in die Lager und verkündeten, dass Stalin 142

143 und das Vaterland das waren ihre Worte die Unterstützung aller ehemaligen Offiziere benötigten. Und alle, die der Armee wieder beitreten, würden wieder ihren Dienstgrad erhalten. Es gibt nicht schlimmeres als Sibirien., erzählte mir Kuschew, Und deshalb traten wir alle wieder ein. Kuschew hatte sich sehr verdient gemacht. Er war 1945 in Berlin, ein Held der Sowjetunion, Träger von zweiundfünfzig Medaillen, und Stabschef einer Front der Roten Armee im Dienstgrad eines Generalleutnants. Als der Krieg vorbei war, beantragte er die Genehmigung, um seine Heimat zu besuchen, was gestattet wurde. Er nahm einen Zug in Berlin. Doch statt seiner Familie warteten am anderen Ende zwei KGB-Offiziere auf ihn. Genosse General, sagten sie zu ihm, Sie dienten acht Jahre im Lager und vier Jahre im Krieg. Sie schulden uns noch immer dreizehn Jahre. Sie rissen seine Medaillen und Dienstgradabzeichen ab und schickten ihn zurück nach Sibirien, wo er seine Reststrafe abarbeiten sollte. Er wurde erst 1957 zwölf Jahre später entlassen, als Chruschtschows Komitee seinen Fall aufgriff und entschied ihn zu rehabilitieren. Einen Monat später wurde er in die Tschechoslowakei versetzt. Trotz seiner schlechten Erfahrungen blieb Kuschew der Partei immer treu. Er hatte jedoch einen guten Sinn für Galgenhumor entwickelt. Eine seiner Lieblingsgeschichten handelte über Neuankömmlinge in Sibirien, die gegenüber den anderen Häftlingen zutiefst beanstandeten, 143

144 dass er zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde, obwohl er nichts verbrochen hatte. Seine verärgerten Mithäftlinge ergriffen ihn und beschuldigten ihn der Lüge. Du musst ein Verbrechen begangen haben., beharrten sie, Für nichts bekommst du nur zehn Jahre. Anfänglich war die Unterstützung der Armee für Chruschtschow eindeutig. Die Armee verabscheute und fürchtete den KGB. Chruschtschow wusste, dass er den Nachrichtendienst neutralisieren musste, wenn er sich gegen seine Widersacher in der Partei durchsetzen und eine Rückkehr zum Stalinismus vermeiden wollte. Ihm war bewusst, dass sich der KGB der Entstalinisierung widersetzen würde genauso wie gegen seine Politik der friedlichen Koexistenz. Um jedoch den KGB, den Parteiapparat, und die Armee zu kontrollieren, benötigte er starke Unterstützer im Politbüro. Und so wie es ersichtlich wurde, war er zu naiv, um festzustellen, wer seine besten Unterstützer wirklich waren. Zwischenzeitlich brachte ihm seine Abneigung gegenüber dem KGB Unterstützer ein, insbesondere bei den einfachen Bürgern von Sowjetrussland. Im Jahre 1963, als ich Usbekistan besuchte, wurde mir eine Muster-LPG in Taschkent gezeigt, in der Baumwolle angebaut wurde. Der Vorsitzende der Kolchose, ein typischer Usbeke Mitte der sechziger mit einem strähnigen Dschingis-Khan- Moustache, bat mich seine Grüße an Chruschtschow zu übermitteln. Als ich nach Moskau zurückkehrte tat ich dies. Chruschtschow war erfreut. 144

145 Dieser Mann, erzählte er mir, macht den besten Grillspieß in Usbekistan. Im vorhergehenden Jahr beantragte der KGB bei Chruschtschow die Festnahme des Vorsitzenden der Kolchose, da dieser für die Weiße Armee während der Revolution kämpfte. Chruschtschow glaubte nicht den Anschuldigungen und ließ den Mann nach Moskau einfliegen, wo er ihn persönlich befragte. Er fand schon bald heraus, dass er in die Weiße Armee eintrat, um für die Rote Armee zu spionieren. Er konnte auch Zeugen benennen, um dies zu beweisen. Chruschtschow überprüfte die Angaben persönlich. Daraufhin, erzählte er mir, befahl ich umgehend die Festnahme der betreffenden KGB- Offiziere. Damit gewann ich einen guten Freund und eine exzellente Soße für einen Grillspieß. Chruschtschow wurde niemals vom KGB unterstützt. Sie warteten auf den richtigen Augenblick. Sie überprüften ihn umfassend und manipulierten ständig seine Ängste. Eines der besten Beispiele ist sein Umgang mit Sowjet-Marschall Schukow. Kaum ein Jahr nachdem er Chruschtschows Leben vor dem Komplott von 1955 gerettet hatte, wurde Schukow entlassen. Schukow hatte nicht genug Ehrgeiz für politische Macht. Er war jedoch entschlossen die Autorität des KGB und der Partei gegenüber der Armee zu vermindern. Er verabscheute vor allem die Kader vom Abwehrdienst des KGB. Für ihn hatten die Modernisierung der Sowjetarmee und die Verbesserung des Ausbildungsstandes der Sol- 145

146 daten eine hohe Priorität. Sein Enthusiasmus führte dazu, dass er einen Fehler machte. Bei einer Rede in Leningrad im Jahre 1956 erklärte er: Die Offiziere der Sowjetarmee sollten sich bemühen die besten Vertreter der sowjetischen Intelligenzija zu werden. Der KGB und der Parteiapparat griffen diese Worte auf und erstellten eine Akte über Schukows Bonapartismus, die sie an Chruschtschow nach der Säuberung der Anti-Partei-Gruppe weiterreichten. Zu dieser Zeit war Chruschtschow besorgt über Schukows Prestige und Einfluss in den Streitkräften. Törichterweise überredete er sich selbst dazu, dass der Sowjet- Marschall eine große Bedrohung für seine eigene Macht war. Deshalb entsandte er ihn nach Belgrad für einen offiziellen Besuch bei Tito. Schukow reiste von Moskau ab mit dem üblichen Pomp und Zeremoniell für einen Minister von seinem Rank und Wichtigkeit. Als er zurückkehrte, wartete jedoch nur ein Adjutant mit einem Auto auf ihn, um ihn nachhause zu bringen. Von seiner Wohnung aus telefonierte er mit Chruschtschow, der ihm stumpf mitteilte, dass er ihn durch Sowjet-Marschall Malinowski ersetzt hatte. In seiner Wut drohte Schukow mit dem Einsatz der Streitkräfte. Versuchen Sie es doch!, forderte ihn Chruschtschow heraus, Ich denke aber, es ist nur fair, dass Sie wissen sollten, dass Ihr Telefon nicht mehr länger mit dem Kommunikationssystem des Militärs verbunden ist. 146

147 Chruschtschow bot ihm dann den Kommandeursdienstposten der Akademie des Generalsstabs an. Fahr zur Hölle!, antwortete Schukow und ging angeln. Chruschtschow war naiv genug zu glauben, dass er mit Malinowski als Verteidigungsminister in der Lage wäre die Streitkräfte selbst zu kontrollieren. Er unternahm einen weiteren Schritt, um seine persönliche Kontrolle über die Armee auszuweiten, indem er im Juli 1960 Sowjet-Marschall Iwan Konew von seinem Posten als Oberkommandierender der WVO entließ und ihn durch seinen Schwager, Sowjet-Marschall Andrei Gretschko, ersetzte. Nicht jeder von uns war enttäuscht, dass Konew von Chruschtschow entlassen wurde. Er war der arroganteste und aggressivste von allen Sowjet-Marschällen ein vulgärer Lauthals, der, wenn er seinen Kaffee hatte, was in der Regel der Fall war, Jungoffiziere und sogar Generäle in der Öffentlichkeit beleidigte. Manchmal wurde er auch gewalttätig. Ich sah ihn einmal, wie er die Feldbluse von einem Offizier zerriss, von dem er dachte, dass dieser falsch angezogen war. Die einzige Person, die keine Angst vor ihm hatte, war wahrscheinlich sein Adjutant. Er war viel jünger und sprach mit der gleichen Arroganz zu ihm wie Konew es gewöhnlich zu anderen tat. Es war unmöglich beiden zuzuhören. Der Adjutant würde immer das letzte Wort haben, auch zu einem Gleichrangigen. Ich hatte durch Zufall einmal aufgeschnappt, wie er seinen Vorgesetzten zurechtwies, dass 147

148 er nicht seinen Rat befolgte beim Einkaufen in Prag mit dem Auto zu fahren statt zu Fuß zu gehen. Halts Maul, du Idiot!, brüllte Konew. Einer von uns ist mit Sicherheit ein Idiot., erwiderte der Adjutant, als es anfing zu regnen, Ich bin das aber nicht. Niemand konnte nachvollziehen, weshalb sein Untergebener solche Privilegien genoss. Eine Theorie war, dass er eine Affäre mit Konews Ehefrau hatte, die sehr hübsch und dreißig Jahre jünger war als ihr Ehemann, und dass sie ihn beschützt. Aber das war nur eine Theorie. Es kann durchaus sein, dass Konew lieber seine sexuelle Befriedigung in pornografischen Filmen aus dem Westen fand als mit seiner Frau. Er war sehr verrückt nach diesen Filmen. Obwohl wir in den Satellitenstaaten froh waren, dass Konew ging, erging es uns nicht besser unter seinem Nachfolger. Sowjet-Marschall Gretschko war ein viel ruhigerer Mann, aber genauso arrogant und unhöflich. Ich erinnere mich an ein Ereignis aus dem Jahre 1964, als er entschied eine persönliche Erkundung an der tschechisch-österreichischen Grenze zu unternehmen. Mein Minister, Lomský, begleitete ihn dorthin. Unsere Grenztruppen stellten ein Boot bereit, sodass er von der Donau aus erkunden konnte. Wir waren zwei Stunden lang zusammen in dem Boot, wobei Gretschko nicht ein Wort äußerte. Er saß einfach dort, beobachtete die Grenze und 148

149 machte sich Notizen. Schließlich fragte Lomský ihn, ob er genug gesehen hatte. Wenn ich nachdenke, antwortete Gretschko, sind Sie still. Und er sagte nichts mehr zu uns. Ich hatte eine unangenehme Begegnung mit ihm kurz vor einem wichtigen Treffen in einem Dorf an der polnischen Grenze. Unsere Militärdelegation, unter Führung von Lomský, kam als erstes an, gefolgt von Gretschko und vielen hochrangigen sowjetischen Offizieren, die das beste Hotel in der nächstgelegenen Stadt hatten. Die Delegation unseres Politbüros reiste später per Bahn an. Wir nahmen alle an, dass wir sie am Bahnhof treffen. Zu gegebener Zeit schickte mich Lomský zum Hotel, um Gretschko abzuholen. Vor seinem Zimmer stand ein sowjetischer General, der mir erzählte, dass Gretschko schläft. Als ich ihm mein Belangen erklärte, ging er in das Zimmer und weckte ihn zu meiner Überraschung. Ich ging hinein, nahm Grundstellung ein, und sprach ihn an. Genosse Marschall, begann ich, in zwei Stunden wird die Delegation unseres Politbüros am Bahnhof ankommen. Mein Minister hat mich gesandt, um Ihnen mitzuteilen, dass er sehr erfreut darüber ist Sie dorthin zu begleiten, um sie zu begrüßen. Verlassen Sie den Raum!, befahl der Sowjet-Marschall mit ruhiger Gehässigkeit, Ich muss Ihre Delegation nicht empfangen. Wenn der Delegationsführer mich sehen will, dann sagen Sie ihm, dass ich in diesem Hotel bin. 149

150 Tatsächlich kenne ich nicht einen sowjetischen Marschall oder General, der gegenüber uns Satellitenstaaten Höflichkeit oder Rücksicht gezeigt hatte, ausgenommen Kuschew. Chruschtschows Entscheidung Konew durch Gretschko zu ersetzen löste eine erbitterte Feindschaft zwischen den beiden Sowjet-Marschällen aus. Sie weitete sich auf ihre Ehefrauen aus, jedoch nicht auf ihre Töchter, die weiterhin gute Freundinnen blieben. Ich erinnere mich an ein Ereignis, als Gretschko mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern in Prag war, währenddessen Konew mit seiner Frau auf einer Durchreise nach Karlsbad waren, wo sie jedes Jahr Urlaub machten. Gretschkos Töchter fragten nach einem Auto, dass sie zum Flughafen bringen sollte, damit sie die Kinder der Konews begrüßen konnten. Die Kinder waren aus Konews erster Ehe. Gretschko und seine Frau lehnten ab. Seine Frau war besonders unerbittlich. Dennoch beschlossen die Töchter zu gehen. Und so liehen sie sich ein Auto von meinem Adjutanten, dem sie die Geschichte erzählten. Chruschtschow dachte, er hätte mit den Ernennungen von Malinowski und seinem Schwager Gretschko seinen Standpunkt bei der Armee gesichert. Er unterschätzte jedoch die Konsequenzen aus seiner Verteidigungspolitik und die Zerstreuung in der Truppe, die die beiden auslösten. Konew war der stärkste und offenkundigste seiner Kritiker. Die Opposition war breit gestreut und nahm zu. Seine Truppenreduzierung um drei Millionen Soldaten in 150

151 wenigen Jahren und seine Kürzung der Pensionen für Offiziere waren schon unbeliebt genug. Darüber hinaus vernachlässigte er auch die Luftstreitkräfte und reduzierte das Budget für die Marine mit der Begründung, dass Nuklearwaffen und Raketen beide Teilstreitkräfte weitestgehend obsolet gemacht hatten. Zudem hatte er auch die konventionellen Flugabwehrbrigaden aufgelöst und schickte deren Ausrüstung als Hilfslieferung in die Dritte Welt in dem Glauben, dass sie aufgrund der Flugabwehrraketen überflüssig geworden sind. Unter Berücksichtigung der damaligen Zeit der tieffliegenden Flugzeuge wurden dadurch die WVO ernsthaft geschwächt. Seine Entscheidungen rächten sich bald. Zuerst im Jahre 1958 während der Unruhen im Libanon, als die Sowjetunion der 6. US-Flotte nicht begegnen konnte und später in der Kubakrise, als die Schwäche der sowjetischen Marine ihn dazu zwang entweder klein beizugeben oder auf die Nuklearwaffen zurückzugreifen, worin Amerika weiterhin die Vorherrschaft hatte. Chruschtschows Autorität in der Armee wurde noch weiter unterminiert aufgrund des Falls um Penkowski, wodurch es dem KGB möglich war ihn dazu zu drängen eine Säuberung in der Militärhierarchie durchzuführen, da sie darin scheiterten einen Topspion des Westens in den eigenen Reihen aufzuklären. Penkowskis Vertrautheit mit hochrangigen Offizieren machte es dem KGB einfacher. Chruschtschow ging gegen die Armee erbarmungslos vor und nutzte den Skandal, um sich selbst von 151

152 seinen stärksten Kritikern wie Sowjet-Marschall Sacharow zu befreien. Die Entlassungen verminderten dennoch die Beliebtheit von Chruschtschow innerhalb der Streitkräfte und trugen zur politischen Macht des KGB bei. Auch der Parteiapparat wurde zunehmend desillusioniert durch Chruschtschows autoritäre Methoden. Ein Beispiel: Als er nach Ägypten reiste, machte er Nasser zu einem Helden der Sowjetunion. Die ersten im sowjetischen Politbüro erfuhren davon, als sie die Nachrichten im Radio hörten. Nasser sperrte alle ägyptischen Kommunisten ein, die er finden konnte, und sie verrotteten weiterhin im Gefängnis, währenddessen Chruschtschow nach Assuan flog. Sogar Novotný lachte, als er mir von der Reaktion des Politbüros erzählte. Die Parteiführung war mit Chruschtschows Neubewertung des Marxismus zur Rechtfertigung der friedlichen Koexistenz nicht einverstanden. Zudem war die Führung über seine Zugeständnisse an den Westen verunsichert, da nach ihrer Auffassung die sozialistische Staatengemeinschaft dadurch einer ideologischen Verunreinigung ausgesetzt wurde. Nach ihrer Ansicht führte seine rigorose Durchsetzung der Entstalinisierung zu der Krise in Polen und Ungarn. Einige Kader warfen ihm vor zu nachsichtig mit China zu sein. Sie glaubten, dass militärischer Druck effektiver gewesen wäre, wenn er ihn früher angewandt hätte. Und viele verurteilten ihn natürlich für seine Vorgehensweise in der Kubakrise. Zu guter 152

153 Letzt wurde auch seine Innenpolitik stark kritisiert. Seine Agrarpolitik war ein Desaster, insbesondere sein ambitioniertes Großprojekt mit der Neuland-Kampagne, bei welcher er enorme Geldsummen verschwendete, um überall Getreide anzubauen, selbst unter den schlechtesten Bedingungen. Wieder einmal war er ein Opfer seiner eigenen Naivität. Er war vollkommen überzeugt und äußerte sich auch so, dass er die UdSSR in fünfzehn Jahren im wirtschaftlichen Bereich auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten und dem Westen heranführt. Und er versprach dem sowjetischen Volk einen Überfluss an Nahrung. Beides waren utopische Wunschträume. Chruschtschow verschleuderte seine Wirtschaftsgüter wie ein hemmungsloser Glücksspieler, so wie es der KGB immer prognostizierte. Einer seiner stärksten Befürworter im Machtkampf war seine frühere Mätresse Jekaterina Furzewa, die Erste Sekretärin im Moskauer Bezirksparteikomitee und Sekretärin des ZK der KPdSU. Die Ersten Sekretäre der Moskauer und Leningrader Bezirksparteikomitees hatten zwei der mächtigsten Positionen im Parteiapparat was ihre Komitees entschieden, wurde gewöhnlich auch von der Partei befolgt. Während Chruschtschows Auseinandersetzung mit der Anti-Partei- Gruppe und dem geplanten Attentat auf sein Leben, demonstrierte Furzewa ihre Loyalität, indem sie alle Mitglieder des ZK zusammenrief, die in Moskau wohnten, um sie dazu zu bewegen, dass der Kreml die Auflösung der Anti-Partei-Gruppe einfordert. Schon nach dem XXI. 153

154 Parteitag der KPdSU im Jahre 1959 wurde sie von Chruschtschow im Stich gelassen, indem er sie ins Ministerium für Kultur versetzte, wo sie offiziell zur Ministerin im Mai 1960 ernannt wurde. Ohne den Rückhalt seiner stärksten Befürworter reformierte Chruschtschow die parteiinterne Struktur, wodurch der gesamte Parteiapparat zu seinem Gegner wurde. Um die zentrale Kontrolle der Partei offener zu machen, und um die Alteingeschworenen zu entfernen, beschränkten sie den Dienst der Parteimitglieder im Politbüro auf zwei Amtszeiten insgesamt acht Jahre. Es gab natürlich auch Ausnahmen für Mitglieder, die sich besonders verdient gemacht hatten, wie Chruschtschow selbst. Er goss noch Öl ins Feuer durch die Einführung eines moralischen Kompasses für den Kommunismus, der auffällige Ähnlichkeiten mit den zehn Geboten hatte. Hiermit sollte die persönliche Haltung der Parteimitglieder reguliert werden. Dass Chruschtschow in Schwierigkeiten war, realisierten wir im Februar 1962, nachdem unser Innenminister, Rudolf Barák, für die Veruntreuung von hohen Summen im Ausland verhaftet wurde. In Baráks privatem Tresor fanden wir neben einer großen Menge Fremdwährung einige Dokumente über Chruschtschows Unterredungen und über sein Verhalten während seiner Besuche in der Tschechoslowakei. Es war ziemlich offensichtlich, dass Barák es niemals auf eigener Initiative gewagt hätte ein Dossier über Chruschtschow zu erstellen. Und niemand 154

155 in unserem Politbüro hatte dies autorisiert. Der KGB musste Barák instruiert haben. Es wäre für uns taktisch unklug sogar höchst undiplomatisch wenn wir das Dossier Chruschtschow persönlich übergeben hätten. Es war jedoch eine hervorragende Möglichkeit den KGB in Verlegenheit zu bringen. Und so übergaben wir es Breschnew, Chruschtschows Stellvertreter, bei seinem nächsten Besuch in Prag. Wir waren uns sicher, dass er Chruschtschow informieren würde. Doch wir rechneten ohne die Intrigen der hohen Sowjetführer. Chruschtschow hörte nichts von dieser Angelegenheit bis zu seinem Niedergang im Jahre Breschnew hatte eine Affäre mit Baráks Ehefrau und plante bereits 1962 den Niedergang seines Wohltäters. Dies war der Mann, den der naive Chruschtschow als seinen besten Freund ansah. Ihre Frauen waren ebenfalls Freunde. Er machte ihm zu seinem ersten Stellvertreter in der Partei und zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet, anstatt solch loyaler Unterstützer wie Schukow oder Furzewa. Er ist nicht gerade der klügste Mann., sagte einmal Sowjet-Marschall Gretschko über Breschnew in meiner Anwesenheit, noch vor Chrutschows Niedergang. Nikita Sergejewitsch vertraut ihm jedoch. Das wahrscheinlich eindeutigste Zeichen für uns, dass Chruschtschows Macht am schwinden war, wurde während seines letzten Besuchs in Prag im August 1964 ersichtlich. Das tschechoslowakische Politbüro und ranghohe Parteifunktionäre, mich eingeschlossen, warteten 155

156 am Bahnhof, um ihn zu begrüßen, als František Pene, ein Sekretär des ZK, uns gegenüber heiter bemerkte: Jetzt werden wir wieder gemeinsam Spaß haben. Genosse Chruschtschow ist großartig im Witze machen. Der sowjetische Botschafter, Michael Simjanin, wandte sich zu ihm und sagte kaltschnäuzig: Witze zu reißen ist eine Sache. Etwas völlig anderes ist es ein Politbüro zu führen. Denken Sie, dass der Erste Sekretär unserer Partei ein Witzbold sein sollte? Es ist nicht zum Lachen, dass Genosse Suslow Nikita Sergejewitsch anti-marxis-tische Äußerungen vorwürft. Diese ungewöhnliche Bemerkung ließ keinen Platz für Zweifel. Chruschtschow steckte in großen Schwierigkeiten, wenn selbst Simjanin sich das Recht herausnahm solch unverfrorene Kritik zu äußern. Wir verstanden auch die Zeichen, als wir Chruschtschows Gesicht sahen, während der Zug einfuhr. Er sah erschöpft und niedergeschlagen aus. Es schien, als hätte er sein altes Temperament verloren. Sogar wenn er sich aufmunterte, zeichnete sich gleich wieder Bitterkeit ab. Als er sich auf seine Beziehung zu Kossygin bezog, bemerkte er: Einige Leute haben gesagt, dass ich zu viel Vorstellungskraft hätte. Ich habe jedoch Kossygin gesagt, dass Menschen ohne Vorstellungskraft offensichtlich ein Talent fehlt und besser zur Arbeit auf einer Kolchose entsandt werden sollten. Während seiner offiziellen Reden auf der Burg Hradčany wurde sein Gemüt ein wenig besser. Er umschrieb 156

157 seine Außenpolitik gegenüber den Vereinigten Staaten damit, dass Amerika zum Grabe geführt wird mit einem Arm um den Schultern. Er gab uns auch einen scharfsinnigen und originellen Bericht über sein erstes Treffen mit Mao Tse-tung. Als ich ihn antraf, sagte er, war ich beunruhigt, da ich erkennen konnte, dass eines seiner Augen auf Washington gerichtet ist und das andere auf unser Sibirien. Er erklärte die Differenzen zwischen seinen Ansichten und die von Mao. Dabei ging er wieder zu seinen typischen Bauerngleichnissen über. Mao glaubte, dass der Kommunismus nur durch Zwang triumphieren könnte, erzählte er uns. Ich bevorzuge es jedoch dem Beispiel meiner Mutter zu folgen. Wenn sie wollte, dass der kleine Nikita eine Aufgabe erledigen sollte, versuchte sie mich immer mit einem Kuchen zu locken. Ich wusste aber nur allzu gut, dass sie einen großen Knüppel im Schrank aufbewahrte. Die Sowjetunion muss auf gleiche Weise mit dem Westen umgehen. Maos Militarismus wird ihn in den Abgrund führen. Die Warschauer Vertragsorganisation sollte einen subtileren Kurs verfolgen und den großen Knüppel nur ergreifen, wenn andere Methoden scheitern. In den letzten Tagen seiner Woche in der Tschechoslowakei schien Chruschtschow seine alte Überschwänglichkeit zurückzuerlangen. Bei einem Picknick, welches ich für die sowjetische Delegation bei einem Jagschloss des Militärs außerhalb von Prag organisierte, saßen er 157

158 und Novotný gut angetrunken an einem Lagerfeuer und grillten Würstchen. Chruschtschow forderte unseren Staatspräsidenten dazu heraus über das Feuer zu springen. Als Chruschtschow sprang, fiel sein Strohhut herunter und verbrannte noch bevor er ihn herausholen konnte. Sie sind so hoch gesprungen, um Ihre Junghaftigkeit zu zeigen., sagte Novotný, um ihn zu schmeicheln. Wenn das ein Mädel zu mir gesagt hätte, kam die Antwort, dann hätte ich gesagt zur Hölle mit dem Hut. Aber da es nur Sie sind, können Sie mir einen neuen kaufen. Chruschtschow wusste Ironie zu schätzen. Er erzählte uns, dass seine Ökonomen damit begannen Pläne für die Steigerung der Lastwagenproduktion zu entwickeln, und dass sie von einer amerikanischen Beraterfirma unterstützt wurden. Die technischen Berater fragten, wie viele Fahrzeuge produziert werden sollten. Die Russen sagten, dass sie in Größenordnung von einhunderttausend denken. Wir wissen, dass ihr ein reiches Land habt., antwortete der Chef-Berater, Aber könnt ihr es euch leisten in solch einer kleinen Stückzahl zu produzieren? Chruschtschow war sich der Armut in seinem eigenen Land durchaus bewusst. Er hoffte immer den Lebensstandard zu steigern. Während dieses Picknicks bewunderte er die Kleider von unseren Frauen. Ich sage unseren Baumwollplantagen, prahlte er, dass sie genug Baumwolle für jede Frau in Russland 158

159 produzieren müssen, damit sie jeden Tag ein neues hübsches Kleid haben können, und dass genug übrigbleibt, um jeden Amerikaner mit einem Taschentuch auszustatten, damit sie ihre Tränen für den Kapitalismus wegwischen können. Er war beständig besorgt über die Belastung durch die Verteidigungsausgaben. Er war bestürzt darüber, dass der Lebensstandard in den Satellitenländern weit über dem der Sowjetunion war. Chruschtschow war überzeugt, dass wir dies aufgrund unserer Aufwendungen für einen angemessenen Beitrag für die militärische Stärke der WVO erreichten. Ich erinnere mich, wie er Lomský im Jahre 1963 für unsere sparsame Haltung hinsichtlich der Verteidigung kritisierte. Damals hatten seine Sowjet- Marschälle, trotz des Rückschlags in Kuba, sich selbst davon überzeugt, dass das militärische Gleichgewicht zwischen Ost und West zunehmend zu ihren Gunsten wechselt, und dass die WVO bereit sein sollte, um seine militärische Stärke als der Hauptfaktor im Kampf für Frieden und Sozialismus zu nutzen. Chruschtschow wurde dazu genötigt mit ihren Plänen für eine Erhöhung der Rüstungsausgaben einherzugehen. Ihm war jedoch bewusst, dass wir Tschechoslowaken zögern würden. Er äußerte scharf gegenüber Lomský: Einige Leute rühmen sich damit wie viele Autos sie in ihrem Land haben, währenddessen die Sowjetunion ausblutet, um sie zu verteidigen. Auch die Russen bevorzugen das Reiten dem Gehen, wie Sie wissen. 159

160 Dennoch war er beunruhigt, dass das Thema Verteidigung Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Satelliten verursacht. Er hatte Recht damit, da der Druck unsere Gesellschaft zu militarisieren und die damit verbundene Inflation viel zu dem Aufkommen der Liberalisierungsbewegung in der Tschechoslowakei beigetragen hatte. Nach seinem Besuch in Prag im August 1964 machte Chruschtschow eine Rundreise durch die entlegeneren Republiken der Sowjetunion und kehrte Ende September nach Moskau zurück. Seine Reisen hatten ihn ausgelaugt. Er ließ sich von seinen Genossen dazu überreden Urlaub auf der Krim zu nehmen. Sie sagten, er solle sich ausruhen, um vor dem Volk am Jahrestag der Revolution am 07. November gekräftigt zu erscheinen. In Wirklichkeit wollten sie jedoch, dass er abgelenkt ist, währenddessen sie seinen Sturz vorbereiteten. Er wurde sehr kurzfristig in seinem Urlaub aufgefordert an einer Sitzung des Politbüros teilzunehmen. Breschnew, eingesetzt als Vorsitzender, erzählte ihm, dass sie über seine Führung diskutiert hatten und dabei entschieden, dass er im Sinne der Partei zurücktreten sollte. Um es ihm einfacher zu machen, und um die Bevölkerung bei der Chruschtschow immer noch beliebt war zu beruhigen, schlugen sie vor die Partei zu informieren, dass er aus gesundheitlichen Gründen zurücktritt. Sein Urlaub auf der Krim würde dies stützen. 160

161 Chruschtschow antwortete verärgert, dass seine Gesundheit ausgezeichnet sei. Er würde das Volk nicht belügen und bestand darauf seine Position vor dem ZK zu verteidigen. Breschnew hatte diese Reaktion erwartet und bereitete sich in den letzten drei Monaten darauf vor. Bei einer Tagung des ZK, die am nächsten Tag einberufen wurde, vertraten sowohl Chruschtschow als auch Breschnew ihre Positionen. Chruschtschow wehrte alles ab mit seiner alten Kampfeslust. Die Führung war jedoch vereint gegen ihn. Die letzte Abstimmung war einstimmig dafür ihn abzusetzen und Breschnew als Ersten Sekretär zu nominieren. Nicht einmal Gretschko, Chruschtschows Schwager, stimmte für ihn. Chruschtschow war der erste Redner, der Breschnew formell gratulierte. Danach verließ er die Tagung und ging nachhause. Er hatte keine Vorstellung von der Stärke und Geschlossenheit der Opposition, die er hervorgerufen hatte. Breschnew war nicht ansatzweise klug genug, um solch einen Staatsstreich allein zu organisieren. Er fungierte lediglich als Symbolfigur für die Armee, die Partei und für den KGB. Er berichtete die Neuigkeit allen Ersten Sekretären in den Satellitenländern telefonisch. Er erzählte Novotný, dass Chruschtschow aufgrund seiner schlechten Gesundheit zurückgetreten sei. Novotný glaubte ihm nicht, was er ihm auch so sagte. Chruschtschow, sagte er, ist kerngesund. Und wenn er erschöpft war, dann nur zwei Monate zuvor, als er in Prag war. Schließlich gestand Breschnew ein, dass Chruschtschow 161

162 wegen seiner schlechten Führung und wegen der Fehler in der Innen- und Außenpolitik abgesetzt wurde. Novotný warnte ihn, dass die osteuropäische Bevölkerung äußerst ablehnend auf diese Neuigkeit reagieren würde. Und er beanstandete zutiefst, dass die KPdSU die Tschechoslowaken zum Narren gehalten hatte, indem sie zuließ, dass Chruschtschows Besuch zu einer Zeit stattfand, wo Breschnew bereits gewusst haben musste, dass er auf dem absteigenden Ast war. Als Breschnew vorschlug, dass er selbst nach Prag kommen sollte, um die Angelegenheit zu besprechen, sagte Novotný ihm unverblümt, dass es nichts nützen würde. Chruschtschows Besuch war ein großer Erfolg und die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass es zu Demonstrationen gegen den neuen Ersten Sekretär kommt. Novotný erzählte mir von diesem Gespräch. Genosse Breschnew wird Ihnen niemals verzeihen, dass Sie so offen gesprochen haben., warnte ich ihn, Früher oder später wird er sich an Ihnen rächen. Die Ereignisse des Jahres 1967 zeigten, dass ich Recht hatte. Unser Politbüro gab eine kurze Mitteilung über Chruschtschows Ausscheiden heraus. Zudem wurde mitgeteilt, dass es sie überrascht hätte ein klarer Widerspruch für die tschechoslowakische Bevölkerung. Der einzige Erste Sekretär, der Chruschtschows Abgang begrüßte, war Gomułka, der dies als überfällig bezeichnete. 162

163 Im Jahre 1964 hatte sich Gomułka von seiner Liberalisierung im Jahre 1956 weit entfernt. Wie ich bereits erwähnte, waren Chruschtschows Frau und Wiktorija Breschnewa schon seit Langem gute Freunde. Sie machten viele gemeinsame Ausflüge in der Tschechoslowakei und verbrachten ihren Urlaub in Karlsbad, gingen dort baden, und aßen abends gemeinsam, als sie von Chruschtschows Sturz im Radio hörten. Beide brachen in Tränen aus und Wiktorija versuchte Nina Chruschtschowa zu beruhigen. Kurz darauf meldete sich der sowjetische Botschafter Simjanin telefonisch mit Instruktionen für Wiktorija, um ihren Rückflug nach Moskau vorzubereiten. Als sie fragte, was mit Chruschtschows Frau geschehen würde, sagte Simjanin, dass sie ihren restlichen Urlaub alleine verbringen sollte, da es aus politischen Gründen unmöglich war beide zusammen nach Moskau zurückzufliegen. Wenn ich nicht mit Nina fliegen kann, dann werde ich auch nicht zurückkommen., schluchzte Wiktorija und knallte den Hörer auf das Telefon. Letztendlich mussten sowohl Simjanin als auch Staatspräsident Novotný nach Karlsbad eilen, um Wiktorija Breschnewa dazu zu überreden, sie nach Prag zu eskortieren. Als sie Moskau erreichte, wurde sie am Flughafen Scheremetjewo mit allem staatlichen Zeremoniell empfangen. Der Rückflug von Chruschtschows Frau erfolgte über einen Linienflug. Sie musste ein Taxi nehmen, um nachhause zu kommen. 163

164 Ende 1964 beobachtete ich einen stümperhaften Versuch der Sowjetunion, bei dem Novotnýs Position unterminiert werden sollte. Ich war bei einer Tagung des ZK als Erster Parteisekretär für das Verteidigungsministerium anwesend. Unser Außenminister Václav David wir wussten, dass er ein sowjetischer Agent war hielt eine Rede, die mit einer Kritik gegen Chruschtschow begann. Er wurde augenblicklich unterbrochen. Dennoch fuhr er unerschrocken fort, um Breschnew anzupreisen. Am Ende schlug er vor, dass die KPTsch dem Beispiel der KPdSU folgen sollte, um die Funktion des Staatspräsidenten und des Ersten Sekretärs voneinander zu trennen. Novotný war selbstverständlich verblüfft schließlich hielt er beide Positionen inne. Gelassen brachte er den Vorschlag trotzdem zur Abstimmung. Nur David stimmte dafür. Einige Tage später erhielt der junge Antonín Novotný einen Besuch von einem Freund im StB, der ihm eine Aufzeichnung von einer Unterhaltung zwischen David und Simjanin brachte, welche in deren Büro aufgenommen wurde. Auf dem Band hörten Antonín und ich, wie David vom sowjetischen Botschafter sorgfältig instruiert wurde. Es war die gleiche einstudierte Rede, die ich zuvor von ihm vor dem ZK gehört hatte. Antonín übergab es seinem Vater beim Mittagessen. Der wütende Staatspräsident telefonierte umgehend mit Breschnew und verlangte eine Erklärung. Breschnew erklärte, dass er nichts davon wüsste, versicherte aber, dass er Simjanin zurück- 164

165 beordern würde, um ihn zurechtzuweisen. Er wurde tatsächlich zurückbeordert. Die Zurechtweisung erfolgte jedoch damit, dass er zum Chefredakteur der Prawda und zum Mitglied des Sekretariats des ZK befördert wurde. Was für eine Zurechtweisung!, kommentierte ich das gegenüber den Staatspräsidenten, Wenn jemand durch Breschnew geohrfeigt wurde, dann sind Sie es. Es gab weitreichende und ablehnende Reaktionen auf Chruschtschows Abberufung, so wie es Novotný prognostizierte. Ich erinnere mich an einen üblen Spruch, der unter den Genossen der sowjetischen Streitkräfte kursierte: Stalin wurde als Mörder geächtet. Chruschtschow, der die kollektive Führung zerstören wollte, wurde als naives anti-marxistisches Plappermaul herausgeworfen. Was werden sie uns über Breschnew sagen, wenn seine Zeit gekommen ist? Der gefürchtete General Jepischew erzählte uns im Frühling 1967, dass das Politbüro bestimmt hatte, dass es keine Kritik mehr über ehemalige Führer geben sollte, da der Umgang mit der Entstalinisierung und Chruschtschows Abberufung einen großen Vertrauensverlust in der Partei verursacht hatte. Im Vertrauen erzählte er uns, dass das Hauptziel seiner politischen Leitung darin besteht das Vertrauen der Armee in die Partei wiederherzustellen. Die Zukunft wird zeigen, wie die Periode mit Chruschtschows Führung zu werten ist. Ich weiß aber von 165

166 meinen Reisen in die UdSSR, was das sowjetische Volk für eine große Dankbarkeit für seine Entstalinisierung und für die Beendigung des Terrors empfindet. Auf der anderen Seite verursachte die Entstalinisierung ein leichtes Schuldbewusstsein in der Psyche der Sowjets, was sich dann gegen Chruschtschow richtete. Für ihn war die Entstalinisierung nicht einfach nur ein moralischer Feldzug oder ein Machthebel, auch wenn er sie für letzteres geschickt einsetzte. Sie war dazu beabsichtigt den Kommunismus aus seinem defensiven und stagnierenden Standpunkt herauszuzerren, um der Sowjetunion neue Initiativen im Umgang mit den Westen zu ermöglichen. Seine Handlungen minderten jedoch die Brutalität im politischen Machtkampf, sowohl in Russland als auch in den Satellitenländern. Es sollte erwähnt werden, dass, wenn er 1953 den Machtkampf verloren hätte, er vor einem Erschießungskommando gestellt worden wäre wie Beria. Dass die Anti-Partei-Gruppe und Chruschtschow selbst nur in den politischen Hintergrund gestellt wurden, ist eines seiner Vermächtnisse, von denen auch Breschnew profitieren könnte, wenn er entmachtet wird. Ich muss auch herausstellen, dass die bloße Existenz von Dissidenten in der heutigen UdSSR wenn auch nur ein kleiner elitärer Kreis eine Maßnahme ist, die auf die Entspannung zurückzuführen ist, die anfänglich von Chruschtschow eingeleitet wurde. Unter Stalin war dies undenkbar und wäre auch unter einem anderen seiner möglichen Nachfolger undenkbar geblieben. 166

167 Chruschtschow konnte kaltblütig und rücksichtslos sein. Er befahl höchstpersönlich die Verhaftung der ungarischen Führer Imre Nagy und Pál Maléter und deren anschließende Hinrichtung im Jahre 1956 in beiden Fällen durch einen hinterlistigen Trick. Er tat wirklich wenig, um den allgegenwertigen Einfluss des KGB zu reduzieren, obwohl er versuchte ihn mehr unter seiner Kontrolle zu bringen, indem er sich persönlich mit den Exzessen befasste, die seine Aufmerksamkeit erregten. Möglicherweise griff der KGB unter Chruschtschow in dem Leben von nicht ganz so vielen Menschen ein. Die anderen staatlichen Kontrollmechanismen, die in dem straff organisierten und monolithischen System des Kommunismus existieren, waren jedoch im Vergleich zu den Lockerungen in den Sicherheitsdiensten weniger ausgeglichen. Eines von Chruschtschows Hauptzielen bestand darin die Parteiführung effektiver zu machen, indem er sie in eine professionelle Führungsschicht umwandeln wollte. Er beanstandete, dass es nicht ausreicht, dass die Kader der Partei ideologisch ausgebildet sind. Sie müssten ausgebildet sein, um die Unternehmungen zu führen, für die sie verantwortlich sind. Es war ein großes Anliegen von ihm den Sowjetrepubliken mehr Macht zu geben. Er wollte, dass die Bürger glauben, dass ihr Schicksal in ihren eigenen Händen liegt insofern es das System zulässt. Während meines Besuches in Armenien im Jahre 1963 erzählte mir der re- 167

168 gionale Erste Sekretär erfreut, dass sie dabei waren ein Projekt mit der Türkei für ein Wasserkraftwerk an ihrer gemeinsamen Grenze zu beginnen. Als sie sich an Moskau wandten, um von der Zentralregierung eine Erlaubnis zu erhalten ein langwieriges bürokratisches Unterfangen stimmte Chruschtschow umgehend zu mit den Worten: сделайте это (dt. tu es ). Chruschtschows Politik der friedlichen Koexistenz, für die er von seinen Widersachern als Anti-Marxist bezeichnet wurde, entsprang seiner Überzeugung, dass die Ideologie im Kampf mit dem Westen nur dann ausschlaggebend ist, wenn das kommunistische System im wirtschaftlichen Bereich gleichgezogen ist. Er erzählte uns immer wieder, dass die Propaganda bedeutungslos ist, wenn das Volk Hunger leidet. Er hoffte, dass die friedliche Koexistenz eine Übereinkunft mit dem Westen einbringt, wodurch die Sowjetunion Technologien und wirtschaftliche Zugeständnisse erhalten könnte, die notwendig waren, um die Wirtschaft auf den gleichen Stand zu bringen. Er war selbstverständlich sehr optimistisch und dachte, dass der Vorgang bloß fünfzehn Jahre in Anspruch nehmen würde. Er war auch sehr zuversichtlich, was die Bereitschaft der Westeuropäer betrifft, sich an den Aufwendungen der Amerikaner zu beteiligen. Trotz all seiner guten Absichten, wurde schließlich die übrige Führung durch Chruschtschows Führungsstil entfremdet. Er begann einen außerordentlichen Fehler, indem er alle drei Säulen des kommunistischen Systems zu 168

169 seinem Gegner machte. Seine unorthodoxen Ideen in Kombination mit seiner persönlichen Extravaganz entsetzten die stumpfen Männer, die die Macht innehatten. Das sowjetische Volk hingegen verehrte ihn. Viele Bürger in den Satellitenländern taten dies ebenso mich eingeschlossen. Er konnte stundenlang frei Reden und schmetterte dabei seine Widersacher mit seinem groben Bauernhumor ab. Seine Fehler wie seine Neuland-Kampagne waren jedoch weitreichend und es gab sonst niemanden, auf den sich der Hass entlud. Sein letzter und schwerwiegendster Irrtum war es anzunehmen, dass sein Protegé Breschnew ihn niemals betrügen würde, und dass er mit seinem Schwager Gretschko in der Armeeführung unangreifbar wäre. 169

170 Abbildungen Meine Eltern auf der Arbeit bei einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) 170

171 Ein Propagandafoto mit Mannschaftssoldaten der Pionierbrigade 51 während einer Politischen Bildung 171

172 Eine Sitzung des Kollegiums des Verteidigungsministers mit einer bulgarischen Delegation im Jahre 1963 von links nach rechts: Ludvík Svoboda, Miroslav Šmoldas, Václav Prchlík, der Verteidigungsminister Bohumír Lomský, Alexander Kuschew, Otakar Rytíř, Vladimír Janko, und ich selbst 172

173 Ein Foto mit einer laotischen Delegation in der Tschechoslowakei von links nach rechts: ich selbst, Oldřich Černík, unbekannt, Kommandeur der Neutralistischen Truppen in Laos General Kong Le, und der Kommandeur der Laotischen Volksbefreiungsarmee General Sin Ka-po 173

174 Ein Foto mit einer tschechoslowakischen Delegation in Bulgarien, 1963 außen links: der bulgarische Verteidigungsminister Dobri Dschurow, neben ihm: Bohumír Lomský, rechts außen: ich selbst 174

175 Parade in Litoměřice zum Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse im Jahre 1967 ich hielt eine Rede vor Bürgern als Mitglied des Präsidiums der Volkskammer 175

176 Josef Smrkovský mit seinem Hund Rap in Prag 176

177 Geburtstagsfeier des Sohnes des Staatspräsidenten Antonín Novotný (rechts außen) in den Weinkellern eines Volkseigenen Betriebs (VEB) in Litoměřice ich bin der zweite von links 177

178 Ein Foto mit meinem Enkel Minek beim Bau meiner Gartenlaube im Westen 178

179 Mai 1968 in Prag: Der siegreiche Dubček (der dritte von rechts) mit Staatspräsident Ludvík Svoboda (neben Dubček) 179

180 März 1971 in Bratislava: Dubček wartet auf einem Bus, der ihn zu der Arbeit bringt, und bleibt dabei unerkannt 180