Womit beschäftigt sich Soziologie? (1) Verschiedene Antworten:

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1 (1) Verschiedene Antworten: Soziale Tatsachen Emile Durkheim Interaktion (soziale Wechselwirkungen Georg Simmel) (soziales) Handeln Max Weber Gruppen Strukturen Soziale Systeme Fazit: Mikro- und Makro-Ebene von Gesellschaften

2 (2) Was unterscheidet die Soziologie von anderen Wissenschaften? Ihr Gegenstand oder ihre Methode? Hat die Soziologie einen eigenen Gegenstand? Das heißt: Ist sie für bestimmte soziale Gegenstände oder Themen zuständig? Oder hat die Soziologie eine eigene Methode, mit der sie alle erdenklichen Gegenstände betrachtet?

3 (3) Daraus folgen zwei Definitionen: (a) Soziologie ist zuständig für soziale Phänomene, d.h. sie erklärt das Soziale (b) Soziologie ist zuständig für alle erdenklichen Phänomene und erklärt sie durch ihre soziale Einbindung, d.h. sie erklärt durch das Soziale

4 Georg Simmel: 3 Auffassungen von Soziologie Soziologie als Methode aller Geistes- und Kulturwissenschaften (41) Soziologie als Wissenschaften von den Formen der Vergesellschaftung bzw. den Formen sozialer Wechselwirkungen ( reine Soziologie ) (47) Soziologie als Erkenntnistheorie der sozialen Sonderwissenschaften (48 f.)

5 Emile Durkheim ( ) Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Tatsachen (faits sociaux) Das Soziale als eine Wirklichkeit sui generis Hauptwerke Über soziale Arbeitsteilung, 1893 Die Regeln der soziologischen Methode, 1895 Der Selbstmord, 1897 Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1912

6 Emile Durkheim: soziale Tatsachen (1) [...] Das Zeichensystem, dessen ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem ich meine Schulden zahle [...] führen ein von dem Gebrauche, den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. Das eben Gesagte kann für jeden einzelnen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens wiederholt werden. Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren. Diese Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht (aus: Die Regeln der soziologischen Methode, 1895, S. 105)

7 Emile Durkheim: soziale Tatsachen (2) Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt. (aus: Die Regeln der soziologischen Methode, 1895, S. 114)

8 Beispiele für soziale Tatsachen Sprache, Zeichensystem Moral Familie Recht Sitten, Bräuche Religion Geld, Wertpapiere Berufe Ökonomie (Angebot und Nachfrage usw.)

9 Emile Durkheim: soziale Tatsachen (3) Soziale Tatsachen sind kollektiv, nicht bloß allgemein : Es ist ein Zustand, der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt. Er ist in jedem Teil, weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist. (aus: Die Regeln der soziologischen Methode, 1895, S. 111, vgl. S. 109)

10 Max Weber ( ) Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln Hauptwerke Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904 Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, 1904 Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, 1917 Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1921 Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen

11 Max Weber: soziales Handeln (1) Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. (aus: Soziologische Grundbegriffe, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921, S. 1)

12 Max Weber: soziales Handeln (2) Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. (aus: Soziologische Grundbegriffe, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921, S. 1)

13 Max Weber: soziales Handeln (3) Verhalten Handeln Soziales Handeln

14 Sinnhaftes Handeln und Verstehen Sinnhaftes Handeln: Was ist der Sinn am Handeln? Unablässiges Verstehen im Alltag als Voraussetzung von sozialem Zusammenleben Zwei Ebenen des Verstehens: aktuelles Verstehen und motivationsmäßiges, erklärendes Verstehen Soziologie als dritte Ebene des Verstehens: Verstehen des Verstehens bzw. des Verstandenen

15 Sinnhaftes Handeln: Beispiele Besuch einer Vorlesung Studienabbruch technische Artefakte Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

16 Gibt es eine Gesellschaft? So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt Individuen, Frauen und Männer, und es gibt die Familie. (Margaret Thatcher, geb. 1925, erste britische Premierministerin)

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