Psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen Gesellschaftlich verursacht? Ärztlich behandelbar?
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1 2014 Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer Psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen Gesellschaftlich verursacht? Ärztlich behandelbar? Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer MPH Professorin für Gesundheitswissenschaften Versorgung von Kindern und Jugendlichen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr Hamburg 20. August 2014 Swiss PH Conference
2 Kindergesundheit im 20. Jahrhundert gelöste Probleme? Was bezeichnet die neue Morbidität im Kindes- und Jugendalter? 1. Verschiebung von den akuten zu den chronischen Erkrankungen z.b. deutlicher Rückgang der Säuglingssterblichkeit geringere Bedeutung von Infektionskrankheiten aber Zunahme von chronischen und nicht direkt lebendbedrohlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie z.b. Asthma, Allergien und Adipositas 2. Verschiebung von den somatischen zu den psychischen Störungen z.b. Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens (Lernstörungen, Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen, Gewaltbereitschaft, Alkohol- und Drogenkonsum) Hohe Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten 3. Die Veränderungen in der Kinder- und Jugendgesundheit des letzten Jahrhunderts zeigen eine größere Bedeutung sozioökonomischer Einflußfaktoren auf die Gesundheit.
3 . Döpfner
4 Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland 17,6% präzisionsgewichtete durchschnittliche Primärstudienprävalenz (95%-KI=15.7;19.5, k=33, n=72.978) Aus: Barkmann & Schulte- Markwort (2010)
5 Wesentliche Fragestellungen hinsichtlich Prävention und Versorgung: Was sind die bedeutsamsten seelischen Probleme im Kindesund Jugendalter? Wie ist die Versorgungslage der betroffenen Kinder? Welche Einflussfaktoren Risiken und Ressourcen sind besonders wichtig? Ergebnisse bieten eine Basis für Präventions- und Interventionsmaßnahmen Wie lassen sich entsprechende Ergebnisse kommunizieren, z.b. an Familien, Schulen, Kindergärten aber auch an die Gesundheitspolitik?
6 Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch Instituts untersuchte von Mai 2003 bis Mai 2006 mit vier Teams eine repräsentative Stichprobe von Kindern an 167 Orten. Die Familien hatten Kinder zwischen 0 und 17 Jahren. Teilnahmequote = 66,6%. Themen: körperliche & psychische Gesundheit, soziales Umfeld, Lebensbedingungen u.v.m. 6
7 Die Befragung Seelisches Wohlbefinden und Verhalten - ein Modul von KiGGS KiGGS konnte nur die wichtigsten Indikatoren als Eckwerte erheben. Vertiefende Erhebungen wurden durch Zusatzmodule an Subsamples durchgeführt. BELLA ist an KiGGS angeschlossen Eine repräsentative Unterstichprobe von 4199 Familien wurden um Teilnahme an der BELLA-Studie gebeten. Aus Ravens-Sieberer et al. (2008) Eur Child Adolesc Psychiatry 17(Suppl1):10-21.
8 Die Bella-Studie: Durchführung Bei Einverständnis wurden die Familien telefonisch kontaktiert und etwa ½ Stunde standardisiert interviewt. Anschließend wurde ihnen ein Fragebogen geschickt Familien mit Kindern zwischen 7 und 17 nahmen teil. Ab 11 Jahren wurden auch die Kinder selber telefonisch und schriftlich befragt. Zur Durchführung der BELLA-Studie siehe auch Ravens-Sieberer et al. (2008) Eur Child Adolesc Psychiatry 17(Suppl1):10 21
9 Die Fortführung der BELLA-Studie als Längsschnittuntersuchung Alle TeilnehmerInnen wurden mehrfach gebeten an der Studie mitzuwirken. Zur Zeit werden die Daten des 4. Befragungszeitpunkts ausgewertet. KiGGS [Basis] BELLA [B0] BELLA [B1] BELLA [B2] KiGGS [Welle 1] BELLA+ [B3] KiGGS [Welle 2] Auswertung BELLA [B4]
10 Erfassung psychischer Auffälligkeiten mit dem SDQ (Strength and Difficulties Questionnaire, Goodman et al. 1997) Die Informationen aus SDQ-Symptomfragebogen und SDQ- Impact zur Belastung können mit Hilfe eines Algorithmus integriert werden, der ermittelt, ob psychische Auffälligkeit unwahrscheinlich, möglich oder wahrscheinlich ist. Symptome Belastung Vorhersage psychische Auffälligkeit: => unwahrscheinlich => möglich => wahrscheinlich Um spezifische Auffälligkeiten wie Depressionen, Ängste, ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens zu erfassen, wurden zusätzliche standardisierte Instrumente eingesetzt. Alle Erhebungen sind an klinischen Kriterien (ICD-10/ DSM IV) orientiert.
11 Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (DIPS) Um spezifische Auffälligkeiten wie Depressionen, Ängsten, ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens zu erfassen, wurden zusätzliche standardisierte Instrumente und ein klinisches Interview eingesetzt.
12 Häufigkeiten psychischer Störungen Was sind die bedeutsamsten seelischen Probleme im Kindesund Jugendalter?
13 Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 78,1 12,2 9,7 gesamt Nach den SDQ-Angaben zu Symptomen und Belastung liegt bei 9,7% der untersuchten Kinder sehr wahrscheinlich eine psychische Auffälligkeit vor, 12,2% zeigen möglicherweise psychische Auffälligkeiten. 21,9% Wahrscheinlich möglich unwahrscheinlich Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Bundesgesundheitsblatt 50(5):
14 Angaben in % Psychische Auffälligkeit nach sozioökonomischem Status Das Auftreten von Hinweisen auf psychische Auffälligkeit wird mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status der Familien (hier nach Winkler) signifikant häufiger. Gradient stabil über 2 Jahre follow up psychische Auffälligkeit bei Kindern mit niedrigem SES persistenter als bei hohen SES ,4% 16,6% 79,1% 20,9% 68,8% 31,2% hoher SES mittlerer SES niedriger SES Hinweise unauffällig Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Bundesgesundheitsblatt 50(5):
15 Prävalenzen psychischer Auffälligkeiten nach Alter die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten ist höher im Alter von 7 bis 12 Jahren und in einem Alter von über 19 Jahren Alter (in Jahren) Aus: Ravens-Sieberer, U.,et. al. (2014 (submitted)). The longitudinal BELLA-Study: Design, methods and course of mental health problems. European Child and Adolescent Psychiatry (7).
16 Auftretenshäufigkeiten spezifischer psychischer Auffälligkeiten Auch alle spezifischen Störungen treten bei niedrigerem SES häufiger auf. Aus: Ravens-Sieberer et al. (2007) Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). BGB 50 (5/6),
17 Verlauf psychischer Auffälligkeiten [Ergebnisse BELLA B0 bis B3] 10 % bis 11% der Kinder und Jugendlichen zeigten zu allen vier Messzeitpunkten psychische Auffälligkeiten (N=1.255) Die Persistenz beträgt ca. 50% nach 1-2 Jahren und 31.5% nach 6 Jahren Teilnehmende mit psychische Auffälligkeit im zeitlichen Verlauf 2.9% 7.3% 15.5% keine psychische Auffälligkeit 74.3% akut/wiederkehrend psychische Auffälligkeit anhaltende psychische Auffälligkeit genesen Aus: Ravens-Sieberer, U.,et. al. (2014 (submitted). The longitudinal BELLA-Study: Design, methods and course of mental health problems. European Child and Adolescent Psychiatry (7).
18 Versorgung Wie ist die Versorgungslage der betroffenen Kinder?
19 Versorgung der betroffenen Kinder Betrachtet man die Frage an die Eltern hinsichtlich einer psychischen Erkrankung ihres Kindes: Hat Ihr Kind eine psychische Erkrankung (z.b. eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Depression, Angststörung oder Störung des Sozialverhaltens)? sowie die sich anschließende Frage, ob das Kind für die vorliegende Störung behandelt wird Ist es deswegen in psychologischer, psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung? zeigt sich, dass nur ca. 50% der Kinder in Behandlung sind: jedes dritte Kind (33%) mit einer akuten/wiederkehrenden psychischen Erkrankung und 64 % mit einer anhaltenden psychischen Erkrankung sind in Behandlung
20 Inanspruchnahme bei psychischer Auffälligkeit (Arztbesuche im letzten Jahr) alle Arztbesuche somatische Versorgung 100% 100% 80% 60% 80% 40% 20% 60% 40% 20% 0% unauffällig grenzwertig auffällig psychologische und psychiatrische Versorgung 100% 0% unauffällig grenzwertig auffällig 80% 60% >12 40% 20% * psych. Störung ist... 0% unauffällig grenzwertig auffällig
21 Wartezeiten auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch (Mittelwerte in Wochen) durchschnittliche Wartezeit von knapp drei Monaten (12,5 Wochen) in den ostdeutschen Flächenstaaten (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) gut zehn Wochen länger als in den Stadtstaaten (Hamburg, Bremen und Berlin). Datenquelle: BPtK-Studie zu Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung Bundespsychotherapeutenkammer, 2011
22 Psychiater pro Einwohne (OECD Health Data) Switzerland Iceland Norway France Finland Sweden Netherlands Germany United Kingdom Luxembourg Italy Israel Belgium Denmark Greece OECD Canada New Zealand Australia United States Austria Estonia Ireland Czech Republic Hungary Slovak Republic Japan Portugal Slovenia Poland Korea Chile Turkey Mexico Per population Datenquelle: Health at a Glance 2011: OECD Indicators
23 Internationaler Vergleich Wie ist die Situation in Europa?
24 SDQ- mean total MH Problems score Mental health problems among adolescents from 11 European countries and socioeconomic status Lower SES significantly associated with more child and adolescent mental health problems 13, , , ,5 10 9,5 9 Germany Spain Netherlands Austria UK France Switzerland Hungaria Greece Czech Republic Poland 8,5 SES low SES high all differences significant *** = p<.001
25 Fazit & Ausblick Die dargestellten Ergebnisse korrespondieren mit bislang vorliegenden deutschen und internationalen Studien zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Sie belegen die hohe Relevanz psychischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter und damit die Notwendigkeit von Prävention und Intervention. Es zeigt sich, dass der familiäre Hintergrund einen wichtigen Einflussfaktor für die gesundheitlichen Probleme darstellt. => als Risiko und als Ressource In Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status sind die Kinder doppelt so häufig psychisch auffällig Die Ergebnisse geben Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte präventiver Maßnahmen: Ressourcenförderung in Gruppen mit geringer Risikobelastung Komplexe Maßnahmen in Gruppen mit höherer Risikobelastung
26 Für Prävention und Intervention ergeben sich neue Herausforderungen: Die Daten zeigen auch die Herausforderung auf, betroffene Familien in adäquate Versorgung zu vermitteln. Hier muss es ein Ansatz sein, mit einem interdisziplinären Team (z.b. in ambulanten Gesundheitszentren) niederschwellig Zugang zu Familien zu erhalten, um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Präventive (und interventive) Maßnahmen sollten an der Verhaltens UND der Verhältnisebene ansetzen. - Aus-/Umbau der Versorgungsstrukturen - Umwandlung von "Komm"- in "Geh"-Strukturen: Ärzte, Mitarbeiter von psychologischen Diensten etc. gehen in Kindereinrichtungen/Institutionen auf Eltern zu - Gesundheit in Kitas und Schulen bringen - Investition in frühe (Gesundheits-)Bildung
27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! ECAP Supplement Mental Health of Children and Adolescents Results of the BELLA-Study as the BELLA study group: Prof. Barkmann Dr. Bettge Prof. Bullinger Prof. Döpfner Prof. Herpertz-Dahlmann Fr. Hölling Prof. Resch Prof. Rothenberger Prof. Schulte-Markwort Prof. Wittchen
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