Zwei Jahrestage, sechs Szenarien: Eine Prognose für Ostasien bis 2020

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1 Zwei Jahrestage, sechs Szenarien: Eine Prognose für Ostasien bis 2020 Das langerhoffte Statement von Premierminister Shinzo Abe zum Gedenken des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs am 14. August 2015 war weder ein Durchbruch noch ein misslungener Versuch die Geschichte Japans schön zu reden, wie einige Kritiker behaupten. Es sollte vielmehr als ein sorgfältig geplanter und ausgeführter Akt der Diplomatie verstanden werden, der nach einem Mittelweg mit den benachbarten Mächten China und Südkorea in einer glaubwürdigen und ehrlichen Weise sucht. Es ist ein Mass für den Erfolg Premierminister Abes, dass er dies so bewerkstelligen konnte ohne die Unterstützung seiner politischen Basis, der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP), zu verlieren. Report von: Prof. Dr. Stefan Lippert Herr Abe hat all die Schlüsselwörter verwendet, die in Peking, Seoul und Washington erwartet worden waren. Er sprach von 'Aggression' und 'Kolonialherrschaft' und verwendete am Ende sogar das entscheidende Wort Owabi, 'Entschuldigung'. Im Japanischen hat dieser Begriff einen sehr distanzierten Klang. Er wird häufig von Unternehmensführern verwendet, die ihrem Bedauern für einen Skandal Ausdruck verleihen möchten, indem sie die Schwierigkeiten betonen, die der Skandal bei den Anteilseignern verursacht hat, während sie gleichzeitig das Top-Management aus der Verantwortung nehmen. Genug Entschuldigungen Die Erklärung von Kaiser Akihito am 15. August, dem Jahrestag der Radioansprache an dem sein Vater, Kaiser Hirohito, die Kapitulation Japans bekannt gegeben hatte, war persönlicher und hat mehr berührt. Der 81 Jahre alte Monarch verbeugte sich tief und sprach von 'tiefer Reue' wegen des Krieges. Er brachte eine tiefempfundene Würdigung für alle diejenigen, die ihr Leben verloren zum Ausdruck und betete für den Weltfrieden. Im Gegensatz zum würdigen, aufrichtigen Ton und der Körpersprache des Kaisers, vermittelte Herr Abe den Eindruck eines Mannes, der sich unwohl fühlte, eine notwendige Aufgabe über die Bühne bringen zu müssen. Er versuchte auch eine Linie zu ziehen, indem er erklärte, dass sich Japan niemals mehr entschuldigen würde. Kritiker wiesen darauf hin, dass die Entschuldigung des Premierministers 'vage' und nicht ernsthaft war. Allerdings stand in Anbetracht der politischen Konstellation im Inund Ausland, sowie der Vorgeschichte, der Persönlichkeit und der politischen Position Herrn Abes, ein radikalerer Schritt in Richtung Versöhnung einfach nie zur Diskussion. In einer seit langem erwarteten Ansprache anlässlich des 70. Jahrestages der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg, sagte der Premierminister des Landes, Shinzo Abe: "Japan hat wiederholt Gefühle der tiefen Reue und aufrichtigen Entschuldigung für seine Handlungen während des Krieges zum Ausdruck gebracht." (Foto: dpa) Am Ende erfüllte die Rede ihren Zweck. Es war eine eindeutige Erklärung der Reue Japans für die Geschehnisse der Vergangenheit, es entsandte aber auch ein klares Signal, dass Tokio in der Zukunft keine weiteren Konzessionen machen wird. Peking und Seoul reagierten, indem sie die Tonlage aufgriffen, welche von Herrn Abe festgelegt worden war: diplomatisch und verhalten. Beide Länder wiesen darauf hin, dass die Erwartungen höher gewesen waren, erkannten allerdings auch an, dass es an der Zeit ist, nach vorne zu blicken. Chinas plötzliche wirtschaftliche Abschwächung, die die Regierung dazu zwang, den Aktienmarkt zu manipulieren und die Währung abzuwerten, sowie die fortdauernde Pattsituation zwischen Nord- und Südkorea, wirken beide zu Gunsten Japans, indem sie die Rolle Japans als Anker der wirtschaftlichen und politischen Stabilität in der Region unterstreichen. SEITE 1

2 Zeremonie in Peking Das zweite symbolische Ereignis, das ein Licht auf die Beziehungen zwischen den stärksten Mächten Ostasiens wirft, war die Zeremonie am 3. September in Peking bei der dem Sieg Chinas über Japan im Zweiten Weltkrieg gedacht wurde. Wie die Amtskollegen aller grossen westlichen Mächte lehnte Herr Abe die offizielle Einladung Chinas ab, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Im Gegenzug weigerte sich Peking den Vorschlag Tokios anzunehmen, ein Treffen zwischen Herrn Abe und Präsident Xi Jinping in der chinesischen Hauptstadt am darauffolgenden Tag zu arrangieren. Die Zeremonie und die Militärparade am 3. September zeigten nicht nur die militärische Stärke Chinas auf, sondern auch seine politische Isolation. Von den grossen Führern der Welt war nur der russische Präsident Wladimir Putin anwesend. Die gigantische Show demonstrierte nur das geopolitische Dilemma, in dem sich China infolge seiner massiven Militärausgaben und des Aufbaus von Marinestützpunkten im Südchinesischen Meer befindet, was die Spannungen mit den südostasiatischen Nachbarn und den G7 Mächten erhöht hat. Die Demonstration der militärischen Muskeln könnte zu Gunsten Japans gewirkt haben, vor allem im Gegensatz zur Entschuldigung Abes. Sein Land wird nun weithin als eine Macht wahrgenommen, die aus ihrem misslungenen Versuch, den asiatisch-pazifischen Raum vor acht Jahrzehnten zu dominieren, gelernt hat. Es folgen nun sechs Szenarien, wie sich die Beziehungen Japans zu China und Südkorea in den kommenden fünf Jahren entwickeln könnten. Prognose für China-Japan 1 Offener Konflikt Falls sich Chinas wirtschaftliche Abschwächung zu einer ausgewachsenen Bankenkrise entwickelt, wodurch das Wirtschaftswachstum sich auf unter 5 Prozent verlangsamt, käme die Kommunistische Partei unter enormen Druck. Um die Aufmerksamkeit vom Konjunktureinbruch abzulenken und um ihre Legitimität zu stärken, könnten die angeschlagenen Behörden versucht sein, Japan die Hölle heiss zu machen. Derweil Tokio vor einer direkten militärischen Aggression durch seine Allianz mit den Vereinigten Staaten geschützt ist, könnte die chinesische Kriegslust Japan - die am schnellsten alternde Nation weltweit Die Bevölkerung Japans: Derzeit 127,1 Millionen Höchste Bevölkerungszahl lag im Jahr 2005 bei 128 Millionen Laut Schätzungen soll die Bevölkerung bis 2048 auf 99,1 Millionen und bis 2060 auf 86,7 Millionen schrumpfen 20 Prozent der Japaner wurden vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren 26 Prozent sind älter als 65 Jahre. Ihre Zahl ist doppelt so gross wie die der Kinder unter 15 Jahren Mindestens Japaner sind 100 Jahre alt oder älter. 87 Prozent von ihnen sind Frauen Quelle: Japan s National Institute of Population and Social Security Research Japan zu höheren Verteidigungsausgaben drängen, die sich das Land kaum leisten kann. Im schlimmsten Fall könnte Peking warten bis das US- Militär in anderen Teilen der Welt stark engagiert ist und dann auf einen Schlag die umstrittenen Senkaku Inseln erobern. Dieses Szenario ist, wenn auch denkbar, so doch höchst unwahrscheinlich, da jegliche potentiellen Gewinne Chinas komplett von den diplomatischen Verlusten überschattet würden. Vor allem aber würde jegliche offene militärische Aggression bedeuten, dass Peking auf die Chance verzichtet, eine nachhaltige geopolitische Struktur in der Region aufzubauen, die eher auf einem gemeinsamen Interesse, denn auf Bedrohung aufgebaut ist. Damit sind andere Arten von Konflikten nicht ausgeschlossen. Ein ernster Zusammenstoss im Cyberspace ist sehr viel wahrscheinlicher. Laut japanischer Regierungsquellen konzentrieren sich chinesische Hacker bereits stark auf Ziele in Japan. Die Wahrscheinlichkeit für einen direkten chinesisch-japanischen Konflikt der traditionellen Land-See-Luft-Spielart liegt sicherlich unter 10 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Cyber-Konflikt ausbricht, ist sehr viel höher und nimmt voraussichtlich noch zu, auch wenn dies nicht zu einem offenen Krieg eskalieren würde. SEITE 2

3 28. SEPTEMBER 2015 Tokio, 21. Sept. 2015: Japanische Senioren trainieren mit hölzernen Hanteln während eines Events, um den 'Respect for the Aged Day' zu bewerben. Die Anzahl der Japaner, die 80 Jahre oder älter sind, hat die 10 Millionen Marke überschritten (Foto: dpa) 2 - Japanischer Zusammenbruch 3 Konvergenz Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch in Japan würde eine Japan mit seiner extrem alternden Gesellschaft und dem Kette von Ereignissen nach sich ziehen, ausgelöst zum hohen Niveau an öffentlichen Schulden liefert einen Beispiel durch ein plötzliches Platzen der 'Vermögens- flüchtigen Blick in die Zukunft Chinas. Aufgrund seiner blasen-wirtschaft', gepaart mit einer Schulden- und Wäh- jahrzehntelangen Ein-Kind-Politik folgt China dem demorungskrise. Im Augenblick kauft die Bank of Japan nahezu graphischen Verlauf Japans. Was ihm fehlt ist Japans alle neu emittierten Staatsanleihen und hält die Renditen umfassendes soziales Sicherheitssystem, der riesige auf öffentliche Schulden auf einem Rekordtief. Es ist Bestand an Haushaltsvermögen und das hohe Pro-Kopfunklar, wie und wann Japan aus diesem System ausstei- Einkommen. Beide Länder werden mit den Auswirkungen gen wird und wie die wirtschaftlichen und politischen einer niedrigen Geburtenrate auf Nachfrage, Produktivität Konsequenzen hiervon aussehen würden. Sicherlich hat und Innovation konfrontiert. der jüngste Aktienmarkt-Crash in China Japan ein Gefühl erhöhter Dringlichkeit eingeflösst. Japans 25 Jahre dauernde Stagnation deutet darauf hin, was China in naher Zukunft erwarten kann. In diesem Die Wahrscheinlichkeit einer erheblichen japanischen Zusammenhang werden sich Tokio und Peking wahrfinanzkrise im Verlauf der nächsten fünf Jahre liegt bei scheinlich weiterhin langsam auf eine bilaterale Kooperaungefähr 25 Prozent. Jedoch selbst ein völlig ausgebilde- tion zubewegen, wie in den 1990er Jahren und zu Beginn tes Szenario, welches Hyperinflation, eine Dollar-Yen-Rate des 21. Jahrhunderts. Potentielle Rückschläge lassen sich von und die Unfähigkeit für importierte fossile bewältigen, womit die Wahrscheinlichkeit für dieses SzeBrennstoffe, Rohstoffe und Nahrungsmittel zu bezahlen, nario einer nachhaltigen Versöhnung bei über 80 Prozent beinhaltet, würde die geopolitische Stabilität im grösseren liegt. asiatisch-pazifischen Raum nicht sofort untergraben. SEITE 3

4 Prognose für Japan-Südkorea Japan und Südkorea sind zusammen mit Australien die bedeutendsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in Asien. Jeder hat ein Interesse daran, Pekings regionale Expansion in Schach zu halten. Beide Länder verfolgen einen Ansatz des Ausgleichs mit Peking. Blickt man nach vorne, so lassen sich drei Szenarien entwerfen, abhängig davon wie sich die Situation auf der koreanischen Halbinsel entwickelt. 1 K r i s e i n N o r d k o r e a f ü h r t z u m K r i e g Nordkorea ist die Wildcard im geopolitischen Spiel in der Region. Das Land ist uneins mit den Vereinigten Staaten, Japan und Südkorea. Sollte Peking seinem ungeliebten Nachbarn die Unterstützung entziehen, wäre die Reaktion Pjöngjangs völlig unvorhersehbar. Die Diktatur Kim Jonguns könnte einen verzweifelten Versuch zu überleben starten, indem sie Südkorea oder Japan angreift. Nordkorea verfügt im Verhältnis zu seiner Grösse über eine riesige Armee. Da das Land mit den Vereinigten Staaten, Japan und Südkorea zerstritten ist, stellt es die Wild Card im geopolitischen Spiel der Region dar. (Tabelle: Macpixxel Maciej) SEITE 4

5 Solch eine Krisensituation würde zu einer sofortigen Annäherung zwischen Seoul, Tokio und Washington führen. Das Regime in Pjöngjang weiss, dass es dieses Feiglingsspiel nicht überleben würde, sofern es ihm nicht gelingt, China mit in den Konflikt hineinzuziehen. Dieses Szenario ist oftmals diskutiert worden, seitdem es letztmals während des Koreakrieges ( ) ausgespielt wurde. Nichtsdestotrotz ist die grundlegende politische und strategische Konstellation sechs Jahrzehnte lang stabil geblieben und selbst unter der dritten Generation der Kim-Dynastie Nordkoreas gibt es keine bedeutenden Anzeichen für eine lauernde politische Krise. Demzufolge ist die Wahrscheinlichkeit für Szenario 1 gering. 2 Allmähliche Demokratisierung Nordkoreas Ein allmähliches Tauwetter im nordkoreanischen Regime, ähnlich dem was in Osteuropa in den Jahrzehnten nach dem Stalinismus geschah, könnte zu einer friedlichen Wiedervere i n i g u n g führen. Nur die Verein i g t e n Staaten und Südkorea unterstützen diese Option stark. Wenn allerdings die Wiedervereinigung zu einer echten Möglichkeit wird, könnten sich Peking und Tokio als seltsame Bettgenossen wiederfinden. Beide Länder sind es zum einen leid, sich mit Pjöngjang zu beschäftigen. Zum anderen werden beide von der Aussicht einer aufstrebenden Wirtschaft mit fast 75 Millionen Kunden angezogen, von denen ein Drittel jede erdenkliche Art von Konsumgütern und Dienstleistungen ganz dringend braucht. Die Wiedervereinigung würde wahrhaftig riesige Wachstumschancen für die chinesischen und japanischen Exporteure schaffen, neben den Mischkonzernen Seouls. Dieses Szenario ist vielleicht das am wenigsten wahrscheinlichste von allen dreien, da Nordkorea keine Anzeichen hat erkennen lassen, dass es seinen Griff auf die Bevölkerung lockert. Im Gegenteil, die Repression hat zugenommen. 3 Status quo Es gibt keinerlei Grund irgendeine dramatische Veränderung in der Ostasienpolitik der Vereinigten Staaten zu erwarten, nachdem ein neuer Präsident im Januar 2017 sein Amt angetreten haben wird. Der Pivot to Asia Präsident Barack Obamas wird auch das geopolitische Paradigma der nächsten Regierung bleiben, da das Auftauchen Chinas als Grossmacht ein hohes Mass an Engagement der Vereinigten Staaten in der Region erforderlich macht. In Japan hat die LDP ihren Nachkriegsstatus als beherrschende politische Kraft wiedergewonnen. Selbst drei Jahre nach dem erdrutschartigen Sieg Abes im Jahr 2012 ist keine wirkungsvolle Oppositionspartei auf der Bildfläche erschienen. Bis zu den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2018 und wahrscheinlich sogar bis 2022 sollte man keinerlei Veränderung erwarten. Die politische Japan und Südkorea sind zusammen mit Australien die bedeutendsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in Asien. Jeder hat ein Interesse daran, Pekings regionale Expansion in Schach zu halten. Situation in Südkorea ist ebenfalls stabil und wird dies zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 bleiben. Stabile Regierungen in Japan und Korea werden es Washington erlauben, weiterhin Brücken zwischen ihnen zu bauen und damit Pekings 'teile und herrsche'-ansatz auszugleichen. Sollten die derzeitigen Verhandlungen zur Transpazifischen Partnerschaft zwischen Tokio und Washington erfolgreich sein, würde Japan sogar noch näher an Amerika heranrücken, da weder Südkorea noch China Teil der geplanten Freihandelszone sind. Dieses dritte Szenario scheint das wahrscheinlichste zu sein, um die Beziehungen zwischen Korea, Japan und den Vereinigten Staaten in den kommenden fünf Jahren zu regeln. Für Strategen in Politik und Wirtschaft bedeutet dies, dass eine tiefergehende politische und wirtschaftliche Integration in Ostasien praktisch vom Tisch ist und es legt nahe, dass eine länderspezifische Herangehensweise die wirksamste Strategie bleibt. SEITE 5