Frauenbeine und Anorak?Ja«, sagt Schubert,»nichts! Jetzt, wo ich alles vor mir sehe, ist da gar kein Anorak mehr. Ich stell also diese Tonne ab und
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- Gretel Kraus
- vor 7 Jahren
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2 eigentlich habe ich Schubert nie verstanden. So ein Leben! Dieser trübe Schubert hat schon in der Schule die Trinkpäckchenstrohhalme aus den Papierkörben gepickt und nach Farben sortiert, Schubert hat eben einfach nichts vom Leben, er macht unbezahlte Überstunden und bessert die Stellen im Lack des Müllwagens aus, er setzt sich hin und isst schnaufend Graubrot und hält das für eine Freude des Daseins. Da schüttelt man den Kopf und ist froh, dass man ein eigenes Leben hat. Und dann plötzlich erwacht in mir eine Unsicherheit: Wer verarscht hier eigentlich wen? Ich dachte immer, ich mache mich über Schubert lustig, aber vielleicht lacht Schubert auch, bloß zwei Etagen höher. Vielleicht sitzt er abends allein in seiner Bude und kann sich kaum halten vor Lachen. Wer ist Schubert? Etwa doch ein Geheimnis, ein Phänomen, ein witziger Typ? Wir trinken nichts, so viel wollte Schubert nun auch wieder nicht springen lassen, er braucht nur einen, dem er das alles erzählen kann, und wen gibt es da schon außer mir? Wir sitzen also im Stadtpark auf einer etwas nassen Bank und essen die Pommes, die ihm den Kopf wieder aufgemacht haben.»wie jetzt«, sage ich,»erzähl mal, was war da jetzt mit
3 Frauenbeine und Anorak?Ja«, sagt Schubert,»nichts! Jetzt, wo ich alles vor mir sehe, ist da gar kein Anorak mehr. Ich stell also diese Tonne ab und lauf so die Straße runter und bieg um ein paar Ecken, da war so ein kleines Café und ich setz mich rein und hau mir einen Kaffee nach dem andern rein und lese in der Zeitung, bestimmt ein paar Stunden und dann zahle ich und gehe und steige in einen Bus, einfach nur, weil zufällig einer neben mir hält. Im Bus gucke ich einer Frau auf den Busen, bis sie aussteigt und ich auch, sie hinten und ich vorne, sie geht rechts, ich links und dann laufe ich und kaufe mir im Edeka Whiskey und einen Brie. Ich sitz so auf dem Parkplatz vor dem Markt und trink und ess und guck so rum.«schubert holt tief Luft und sieht mich entsetzt an, als wollte er sagen, das kann doch nicht sein, da verliere ich das Gedächtnis und einmal im Leben wäre alles, aber auch wirklich alles möglich gewesen. Und was mache ich? Whiskey saufen, Brie essen, auf einem Zaun schlafen. So eine Chance und dann das!»nee«, sagt Schubert und schüttelt den Kopf. Er setzt sich etwas auf, wir glotzen auf den Rasen vor uns, da kullern ein paar junge Hunde herum, ihre Frauchen lachen, es nieselt, alles wie immer. Und dann weint Schubert, leise, aber sichtbar. Schubert weint, denke ich und sage:»was weinste?«schubert zuckt die Schultern.»Scheiße«, sagt er mit
4 richtig Zittern in der Stimme,»wenn ich mich bloß nicht erinnert hätte, warum ist mir das bloß wieder eingefallen?«. Was hat Schubert eigentlich geglaubt? Dass er plötzlich ein wildes Tier war, nur weil sein Hirn mal für ein paar Stunden nicht auf Sendung war? Dass ihm plötzlich die krassen Geschichten unterlaufen sind, dass sein Leben plötzlich unfassbar und verrückt war? Warum? Woher? Whiskey saufen und Brie fressen und sonst gar nichts tun, das passt eigentlich ganz gut.»jetzt bin ich wieder alleine«, sagt Schubert,»das ist doch Scheiße!Scheiße!«, schreit Schubert laut, so laut, als würde man alles, was Schubert in seinem Leben bisher so zusammengegrummelt hat, lautstärkemäßig zusammenaddieren und auf einmal loslassen, so laut. Und ich gucke ihn an und Schubert steht auf und rennt weg, er tritt gegen einen Baum und schreit, weil er sich dabei offenbar wehtut und rennt weiter, humpelnd und zeternd. So habe ich Schubert noch nie gesehen, die Fassung verlierend. Und ich denke: Enorm, so ein Ausbruch. Wild und schön.
5 Machst du bitte mit, Henning Wie ich den gesehen hab, so ganz allein, hab ich gleich gemerkt, wie es anders geworden ist, also ich, und das war gar nicht mal schlecht, finde ich. Man ist so lange, wie man eben ist, bis man anders wird. Und dann bin ich also hin und hab gesagt:»ej.«mehr nicht, im Anfang. Ich will keinen Ärger, steht auf einem Zettel, der hängt über meinem Bett. Das ist mein Stoppsatz, das war Aufgabe in der Tagesgruppe, vor ein paar Wochen, wir mussten den Stoppsatz auf einen Zettel schreiben und in unserem Zimmer aufhängen. Und nicht hinter dem Schrank, sondern am Fenster oder über dem Schreibtisch oder über das Bett, hat Frau Heinsohn gesagt, jeder seinen eigenen Stoppsatz. Ein Stoppsatz funktioniert so: Man sagt den Stoppsatz auf, ganz leise, nur für sich und im Kopf, wenn es eine Gefährdungssituation gibt das ist eine Situation, in der es passieren könnte und dann stellt man sich in eine andere Ecke des Zimmers oder wo die Situation ist, also auch nur im Kopf, und stellt sich die Situation vor, wie wenn man sie von außen sehen würde und sagt sich seinen Satz, ich will keinen Ärger, also das ist jetzt ja mein Satz, jeder kann sich einen anderen aussuchen, und dann überlegt man, was man
6 als Nächstes macht. So geht der Stoppsatz, das hat Frau Heinsohn mit uns geübt. Ich bin hier in Haus Hirte Heim für gestörte Kinder, Zentrum für Familienhilfe. Morgen ist Weihnachtsfeier, da plane ich was, aber das ist noch geheim. Ich habe ein richtig blaues Auge seit gestern Abend, ich sehe aus wie ein Verbrecher, sagt Frau Heinsohn. Als ich heute Morgen reingekommen bin, durch die Tür, sagt Frau Heinsohn:»Also, Henning, was hast du denn angestellt?«und hat sich die Hände auf den Mund gelegt und sie wieder runtergenommen und auf ihren Schoß gelegt, wo die immer liegen wie zwei dicke tote Fische, und dann hat sie gesagt»also, du siehst ja aus wie ein Verbrecher.«Da hab ich genickt und von den anderen hat keiner was gesagt und ich hab mich einfach hingesetzt an den Tisch und dann hat Sören mir schon alles erklärt, der arbeitet in Haus Hirte Heim für gestörte Kinder, er ist der Zivi, so heißt das. Er hat erklärt, was wir heute machen sollen in der Tagesgruppe. Lebkuchen zusammenkleben, Häuser zum Beispiel oder was wir wollen. Logischerweise, das ist ein Trick, man soll bauen, was man will, und sie denken, man verrät aus Versehen was, was man gar nicht sagen wollte, also man ist so am Bauen, was man Lust hat und sagt damit aus Versehen was, so machen die das, Frau Heinsohn und
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