Wissenswert. Gefährdete Arten: Blindschleiche. von Diemut Klärner. Sendung: , Uhr, hr2-kultur

Transkript

1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Regina Oehler Wissenswert Regie: Marlene Breuer : Andrea Dewell Gefährdete Arten: Blindschleiche von Diemut Klärner Sendung: , Uhr, hr2-kultur Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

2 Atmo Vögel im Wald Ein Frühlingstag im Wald. Am Wegrand scheint die Sonne auf verwelktes Laub vom vergangenen Jahr. Manchmal wärmt sich dort eine Blindschleiche, graubraun oder rotbraun schimmernd, im Sonnenlicht. Wer sich behutsam hinabbeugt, blickt in goldbraune Augen mit einer runden schwarzen Pupille. Blind ist sie offenbar nicht, diese Echse, die ganz ohne Beine klarkommt. Andreas Hertz vom Forschungsinstitut Senckenberg O-Ton 01 (Andreas Hertz) Blind ist sie nicht, sie hat sogar ziemlich gut entwickelte Augen. Wahrscheinlich hat Blindschleiche gar nichts mit blind zu tun, sondern das kommt aus dem Althochdeutschen und heißt so was wie Blendschleiche, weil die Blindschleiche sehr glatte Schuppen hat und im Sonnenlicht das Licht reflektiert, blenden im Sinn von spiegeln. Manchmal glänzt das Schuppenkleid der Blindschleiche geradezu metallisch. Wenn Blindschleichen davonkriechen, schlängeln sie sich wie Schlangen, allerdings eher gemächlich, denn sie tragen eine Art Panzer mit sich herum. O-Ton 02 (Andreas Hertz) Unter den Schuppen haben die so kleine Knochenplatten, die sind sehr fest, und das macht diese Schlängelbewegungen der Blindschleiche ein bisschen steif, wenn man das mit einer Schlange wie der Ringelnatter oder so vergleicht, da sind die nicht so schnell, Seite 2 von 11

3 zwischen Laub und Gras aber doch rasch verschwunden. Wenn Blindschleichen nicht gerade ein Sonnenbad nehmen, um sich aufzuwärmen, dann leben sie im Verborgenen. O-Ton 03 (Andreas Hertz) Früher dachte man, die wäre rein nachtaktiv, weil immer, wenn man Stämme und so rumgedreht hat und Steine, dann waren da oft Blindschleichen drunter. Dann hat man das so interpretiert, dass die Blindschleiche tagsüber das als Versteck nutzt. Dann hat man aber mal angefangen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit diese Stämme zu drehen, und da hat man gesehen, nachts sind die da gar nicht drunter. D.h. die Nacht verbringen die irgendwo anders, wahrscheinlich im Boden. Und wahrscheinlich ist es so, dass sie tagaktiv sind und gezielt unter Stämme und Steine gehen, weil da ihre Hauptbeute ist, nämlich Regenwürmer und Nacktschnecken, und die eigentlich auf der Jagd sind und sich gar nicht unter diesen Stämmen verstecken. Blindschleichen leben fast nur von Regenwürmern und Nacktschnecken, die sie auch im Dunkeln mühelos aufspüren. Wie andere Echsen haben die Blindschleichen einen guten Riecher für ihre Beute. Sie strecken ihre Zunge hervor, um Duftstoffe aufzunehmen, von festen Objekten oder einfach aus der Luft. Dann ziehen sie die Zunge wieder zurück und führen die Zungenspitzen zum Oberkiefer. In zwei Vertiefungen sitzen dort zahlreiche Sinneszellen, empfindlich für vielversprechende chemische Signale. Blindschleichen müssen sich nicht eilen, schneller als ihre Beute sind sie allemal. Damit sie eine glitschige Nacktschnecke festhalten und vom Untergrund losreißen können, brauchen sie allerdings ein spezielles Gebiss. Seite 3 von 11

4 O-Ton 04 (Andreas Hertz) Die haben so kleine, nach hinten gebogene Zähne, da packen die die und dann fressen die die in einem Stück, ohne die zu zerkauen. Und danach putzen sie sich den Mund ab, nehmen dann den Kopf so ein bisschen schräg und putzen sich den Schleim irgendwie am Untergrund ab. Diese Nacktschnecken produzieren ja extrem viel Schleim, wenn die angegriffen werden, und das schreckt die meisten Feinde ab. Der Blindschleiche macht das überhaupt nichts aus. Atmo Singdrossel Bei Vögeln sind Nacktschnecken dagegen wenig beliebt, Schnecken mit Haus schon eher. Singdrosseln haben es besonders auf Schnirkelschnecken abgesehen und eine speziellen Trick parat: Sie schlagen das Schneckenhaus auf einen Stein, um an den nahrhaften Inhalt zu kommen. Doch zurück zur Blindschleiche: Die Blindschleiche ist das einzige Reptil, das in Deutschland fast flächendeckend vorkommt. O-Ton 05 (Andreas Hertz) Sie kommt in Wäldern vor, die kommt aber auch in Weinbergen vor, auf Streuobstwiesen, bis hin in Gärten sogar im städtischen Bereich. Allerdings braucht sie natürlich so eine gewisse Bodenfeuchte, damit dann auch die Nacktschnecken vorkommen und die ihre Beute findet. Ob in einer bestimmten Gegend tatsächlich Blindschleichen leben, ist aber oft gar nicht so leicht zu beweisen. Denn gewöhnlich bleibt die Blindschleiche vor forschenden Blicken verborgen, versteckt unter Laub und Gras. Am ehesten lässt sie sich im Frühjahr entdeckten, wenn sie Seite 4 von 11

5 hervorkommt, um sich im Sonnenschein aufzuwärmen. Manchmal nimmt sie ihr Sonnenbad dann mitten auf einem Weg oder einer Straße. Dort kommt sie dann leider oft unter die Räder. Und das ist nicht die einzige Gefahr, die ihr droht. Andreas Hertz O-Ton 06 (Andreas Hertz) Die Blindschleiche hat natürlich auch viele Feinde, Fressfeinde. Unter den Säugetieren eine ganze Menge, da gehören z.b. Iltis dazu, Igel fressen die, Füchse fressen Blindschleichen. Wildschweine sind Blindschleichenfresser, die graben die eventuell im Winter auch aus ihren Winterquartieren aus. Ja dann gehören alle möglichen Vögel zu den Fressfeinden, gerade wenn die jung sind, dann frisst bestimmt auch mal eine Amsel so eine kleine 15-Zentimeter-Schleiche, oder Störche gehören zu den Fressfeinden, Bussarde, Krähen und Raben ebenfalls. So große Vögel werden auch den erwachsenen Blindschleichen gefährlich. Atmo Rabe Schließlich sind Blindschleichen nur selten länger als ungefähr 40 Zentimeter. Wenn sie am Schwanz gepackt werden, haben sie aber doch noch eine gute Chance zu entkommen. O-Ton 07 (Andreas Hertz) Darauf weist schon der wissenschaftliche Name hin: Anguis fragilis, das fragilis, das bezieht sich auf zerbrechlich und den zerbrechlichen Schwanz, und die besteht ja zu über der Hälfte aus Schwanz, und der kann eigentlich an jeder Stelle abbrechen. Seite 5 von 11

6 Die Schwanzwirbel haben nämlich eine Art Sollbruchstelle. Ein abgebrochener Schwanz zappelt dann noch eine Weile. So lenkt er die Aufmerksamkeit des Angreifers auf sich, und die Blindschleiche kann sich davonschleichen. Allerdings muss sie danach mit einem kürzeren Schwanz weiterleben. O-Ton 08 (Andreas Hertz) Der wächst nach, aber immer nur ein ganz winziges Stück, nicht wie bei Eidechsen. Bei Eidechsen wächst ja fast die ganze Länge wieder nach. Bei den Blindschleichen gibt es so einen halben Zentimeter und dann so ein knubbeliges Ende, und der wächst nie wieder auf die volle Länge heran. Blindschleichen mit völlig unversehrtem Schwanz sind selten. Den meisten ist anzusehen, dass sie irgendwann ein Stück davon eingebüßt haben. Atmo Krähe Wenn es einem Angreifer allerdings gelingt, eine Blindschleiche weiter vorne zu packen, dann ist sie einem spitzen Schnabel ausgeliefert oder Zähnen und Krallen. Auch Hauskatzen lassen nicht locker, bis die Beute aufhört zu zappeln. Da hilft es der Blindschleiche nichts, dass sie zu den gesetzlich besonders geschützten Tierarten zählt. O-Ton 09 (Andreas Hertz) Aber sie ist an sich schon ganz gut gepanzert, also so leichte oberflächliche Verletzungen steckt sie ganz gut weg. Und auch in der Paarung beißt das Männchen Seite 6 von 11

7 dem Weibchen ja in den Nacken. Wenn man so im Frühjahr unterwegs ist, dann sieht man öfter mal Weibchen mit so Nackenverletzungen, das kommt dann von dem Paarungsbiss, das verheilt aber ganz gut wieder. Warum die Männchen so kräftig zubeißen? Ohne sich festzubeißen, würden sie auf dem glatten Körper des Weibchens wahrscheinlich zu schnell abrutschen und die Paarung misslingen. Bis nach der Paarung dann der Nachwuchs zur Welt kommt, ist es schon Hochsommer und mitunter sogar schon herbstlich geworden. Atmo Heuschrecken O-Ton 10 (Andreas Hertz) Die Jungen entwickeln sich komplett im Mutterleib und werden dann geboren. Als wäre die wirklich wie ein lebendgebärendes Tier, werden die Eier so spät gelegt, dass die Jungen direkt schlüpfen. Statt einer harten Kalkschale haben Blindschleicheneier nur eine dünne, durchsichtige Haut. Sie zerreißt während der Geburt oder sofort danach. Neugeborene Blindschleichen sind bloß fingerlang und wenige Millimeter dick. Dass die Eier im Körper der Mutter ausgebrütet werden, hat einen entscheidenden Vorteil: Die schwangeren Weibchen können ganz gezielt Plätze aufsuchen, die den heranwachsenden Embryonen eine optimale Temperatur bieten. Und wenn die Sonne wandert, dann wandern die Blindschleichen einfach mit, von einem Sonnenfleck zum andern. So können sie auch an Nordhängen zurechtkommen, in Biotopen, die für Reptilien eigentlich viel zu schattig scheinen. Seite 7 von 11

8 Atmo Buchfink O-Ton 11 (Andreas Hertz) In Fichtenwäldern findet man keine Reptilien außer der Blindschleiche. Und denen reichen schon Sonnenflecken von ungefähr einem Quadratmeter, also wenn da mal so ein bisschen die Sonne durchscheint, dann reicht es denen schon zum Sonnen. In dieser Hinsicht ist die Blindschleiche noch genügsamer als die Kreuzotter, die in Skandinavien ein ganzes Stück weiter nach Norden vordringt. Eine Blindschleiche ist freilich keine Schlange, nicht einmal sonderlich eng mit Schlangen verwandt. O-Ton 12 (Krister Smith) Nein, obwohl sogar im Namen verbirgt sich diese Verwechslung. Anguis bezieht sich eigentlich auf Schlange. Das ist ein altes lateinisches Wort für Schlange und kommt aus dem indoeuropäischen Raum. Das sind aber keine Schlangen. Die Schleichen bilden eine Familie der Echsen, die von Wissenschaftlern Anguiden genannt wird, und es leben heutzutage etwa 120 Arten von Schleichen weltweit. Dr. Krister Smith beschäftigt sich am Forschungsinstitut Senckenberg mit der Entwicklungsgeschichte von Echsen. Er studiert Fossilien, zum Beispiel solche, die aus der Ölschiefergrube Messel bei Darmstadt stammen. Dort sind Fossilien oft außergewöhnlich gut erhalten, mit einem kompletten Skelett, mit Haut und Schuppen. Bei seinen Forschungsarbeiten ergründet Krister Smith die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen verschiedenartigen Echsen. Denn die sind keineswegs offensichtlich. Einerseits haben zum Beispiel Seite 8 von 11

9 viele Mitglieder der Schleichen-Familie ganz normale Beine. Andererseits sind Blindschleichen bei weitem nicht die einzigen Echsen, die ohne Beine durchs Leben gehen. O-Ton 13 (Krister Smith) Das passiert so oft bei den Echsen. Es gibt zahlreiche Gruppen, bei denen gewisse Mitglieder die Beine verloren haben, im Laufe der Evolution, im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte. Und zwar wohl deshalb, weil sich Echsen ohnehin mehr oder minder schlängelnd fortbewegen. Unter Umständen geht das ohne Beine sogar besser. O-Ton 14 (Krister Smith) Wenn man in Erdbauten wohnt, sind Beine natürlich ein Hindernis. Das kennt jeder Höhlenforscher, auch ich, der versucht hat, sich durch kleine Gänge und Spalten zu schlängeln. Und auch diejenigen, die auf der Erdoberfläche wohnen, sie müssen sich hinschlängeln. Wenn man in dichtem Unterholz ist oder in dichtem Gras, dann werden Beine auch von Nachteil sein. Und das ist bestimmt ein Grund dafür, dass die Beine so oft verlorengehen, auch bei den Schleichen. Blindschleichen bevölkern den größten Teil von Europa, vom südlichen Skandinavien bis zum nördlichen Portugal und südlich der Alpen bis nach Sizilien. Sie sind aber nicht die einzigen europäischen Schleichen. Ganz im Südosten von Europa ist die Panzerschleiche zu Hause. Atmo Zikaden Seite 9 von 11

10 Panzerschleichen sind viel stattlicher als Blindschleichen. Sie können mehr als einen Meter lang werden und mit ihrem kräftigen Gebiss auch große, gut gepanzerte Insekten knacken. Sogar Schneckenhäuser kann die Panzerschleiche zertrümmern. Und wie ihr Name verrät, trägt sie selbst einen festen Panzer. O-Ton 15 (Krister Smith) Bei der Panzerschleiche, das ist die größte Schleiche der Welt, da sind die Knochenplatten wirklich am stärksten unter allen lebenden Schleichen. Aber sie müssen ja weitere Anpassungen aufweisen, z.b. wenn der Körper so zusammengehalten wird durch diese Knochenplatten, stellt es ein Problem dar, wenn man atmen will. Von daher gibt es so eine Längsfurche auf jeder Seite des Körpers. Und diese Längsfurche, die ist ausdehnbar, und das ist die Stelle, wo der Körper sich expandieren kann. Beispielsweise, um frische Luft in die Lunge strömen zu lassen oder um fette Beute zu verschlingen. Die Vorfahren von Blindschleiche und Panzerschleiche sind schon vor langer Zeit getrennte Wege gegangen, das kann Krister Smith anhand von Fossilien nachverfolgen. O-Ton 17 (Krister Smith) Jede Art hat ihren Anfang schon im Eozän, der erste Nachweis also von der Linie der Blindschleichen ist im Späteozän zu finden, vor etwa 35 Millionen Jahren. Seite 10 von 11

11 Die ersten Vertreter der Schleichen sind noch sehr viel älter. Sie lebten schon zur Zeit der Dinosaurier, allerdings nicht in Europa. O-Ton 18 (Krister Smith) Die Familie stammt eigentlich aus Nordamerika. Wir kennen diese Familie seit der Kreide, da fingen sie an. Und dann im Eozän, das ist vor etwa 55 Millionen Jahren, als die Erde noch sehr, sehr warm war, wandern Mitglieder dieser Familie von Nordamerika nach Europa aus. Wir kennen die ersten Vertreter auch aus der Grube Messel, da kommt eine Art vor, die ganz schön erhalten ist, mit sehr kleinen Beinen, die sind noch nicht ganz verlorengegangen. Diese Art nennt man Ophisauriscus, d.h. kleine Schlangenechse. Hier in Europa hinterließen die einige Abkömmlinge, sind weiter nach Osten ausgewandert, nach Asien, hinterließen überall Nachkommen. Und dann von Asien aus breiteten sie sich weiter nach Nordamerika aus. Und in Nordamerika waren mittlerweile die Vertreter der Anguinae schon ausgestorben. Dann kamen die Anguinae, die Schleichen aus Asien zurück nach Nordamerika. Im Laufe der Jahrmillionen ist die nähere Verwandtschaft der Blindschleichen also einmal rund um den Globus gewandert. Aufs Wandern verstehen sich aber auch die Blindschleichen selber, schließlich haben sie nach der letzten Eiszeit bald wieder ganz Mitteleuropa besiedelt. Gerade im Frühjahr lohnt es, nach ihnen Ausschau zu halten. Denn anders als Eidechsen suchen Blindschleichen nicht gleich das Weite. Oft lassen sie sich in aller Ruhe beobachten. Atmo Vögel im Wald Seite 11 von 11